Sachbücher des Monats: Dezember 2019

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Andreas Reckwitz
Das Ende der Illusionen
Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne

Noch vor wenigen Jahren richtete sich die westliche Öffentlichkeit in der scheinbaren Gewissheit des gesellschaftlichen Fortschritts ein: Der weltweite Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft schien unaufhaltsam, Liberalisierung und Emanzipation, Wissensgesellschaft und Pluralisierung der Lebensstile schienen die Leitbegriffe der Zukunft. Spätestens mit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps folgte die schmerzhafte Einsicht, dass es sich dabei um Illusionen gehandelt hatte.
Tatsächlich wird erst jetzt das Ausmaß des Strukturwandels der Gesellschaft sichtbar: Die alte industrielle Moderne ist von einer Spätmoderne abgelöst worden, die von neuen Polarisierungen und Paradoxien geprägt ist - Fortschritt und Unbehagen liegen dicht beieinander. In einer Reihe von Essays arbeitet Andreas Reckwitz die zentralen Strukturmerkmale der Gegenwart heraus: die neue Klassengesellschaft, die Eigenschaften einer postindustriellen Ökonomie, den Konflikt um Kultur und Identität, die aus dem Imperativ der Selbstverwirklichung resultierende Erschöpfung und die Krise der Liberalismus.
Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp), 306 Seiten, € 18,00
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Jürgen Habermas
Auch eine Geschichte der Philosophie
Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen
Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen

Jürgen Habermas gibt im Stil einer Genealogie darüber Auskunft, wie die heute dominanten Gestalten des westlichen nachmetaphysischen Denkens entstanden sind. Als Leitfaden dient ihm der Diskurs über Glauben und Wissen, der aus zwei starken achsenzeitlichen Traditionen im römischen Kaiserreich hervorgegangen ist. Habermas zeichnet nach, wie sich die Philosophie sukzessive aus ihrer Symbiose mit der Religion gelöst und säkularisiert hat. In systematischer Perspektive arbeitet er die entscheidenden Konflikte, Lernprozesse und Zäsuren heraus sowie die sie begleitenden Transformationen in Wissenschaft, Recht, Politik und Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, zusammen 1744 Seiten, € 98,00
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Ulrike Guérot
Wie hältst du’s mit Europa?

Ulrike Guérot beleuchtet in "Wie hältst du’s mit Europa?" die Entwicklung der EU in den dreißig Jahren zwischen 1989 und 2019. Wie oder wieso hat sich Europa, auch unter deutschem Einfluss, immer mehr von seinem Ziel einer "immer engeren Union" abgewendet? Was hält diesen Kontinent in seinem Innersten noch zusammen, in einem Agenblick, wo das einstige deutsche Paradigma, nämlich dass deutsche und europäische Einigung zusammengehören, ganz offensichtlich nicht mehr gilt?
Steidl Verlag, 176 Seiten, € 16,00
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Jill Lepore
Diese Wahrheiten
Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika

Die Amerikaner stammen von Eroberern und Eroberten, von Menschen die als Sklaven gehalten wurden, und von Menschen die Sklaven hielten, von der Union und von der Konföderation, von Protestanten und von den Juden, von Muslimen und von Katholiken, von Einwanderern und von Menschen, die dafür gekämpft haben, die Einwanderung zu beenden. In der amerikanischen Geschichte ist manchmal - wie in fast allen Nationalgeschichten - der Schurke des einen der Held des anderen. Aber dieses Argument bezieht sich auf die Fragen der Ideologie: Die Vereinigten Staaten sind auf Basis eines Grundbestands von Ideen und Vorstellungen gegründet worden, aber die Amerikaner sind inzwischen so gespalten, dass sie sich nicht mehr darin einig sind, wenn sie es denn jemals waren, welche Ideen und Vorstellungen das sind und waren.
Übersetzt von Werner Roller.
C.H.Beck Verlag, 1120 Seiten, € 39,95
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Juan Moreno
Tausend Zeilen Lügen
Das System Relotius und der deutsche Journalismus

Es war der größte Fälschungsskandal seit Jahrzehnten: Ein Reporter des "Spiegel" hatte Reportagen und Interviews aus dem In- und Ausland geliefert, bewegend und oftmals mit dem Anstrich des Besonderen. Sie alle wurden vom "Spiegel" und seiner legendären Dokumentation geprüft und abgenommen, sie wurden gedruckt, und der Autor Claas Relotius wurde mit Preisen geradezu überhäuft. Aber: Sie waren - ganz oder zum Teil - frei erfunden.
Juan Moreno hat, eher unfreiwillig und gegen heftigen Widerstand im "Spiegel", die Fälschungen aufgedeckt. Hier erzählt er die ganze Geschichte vom Aufstieg und Fall des jungen Starjournalisten, dessen Reportagen so perfekt waren, so stimmig, so schön. Claas Relotius schrieb immer genau das, was seine Redaktionen haben wollten. Aber dennoch ist zu fragen, wieso diese Fälschungen jahrelang unentdeckt bleiben konnten.
Rowohlt Berlin Verlag, 288 Seiten, € 18,00
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Michael Martens
Im Brand der Welten
Ivo Andric. Ein europäisches Leben

Für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet, wurde Ivo Andric 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Michael Martens zeigt in seiner Biografie einen außergewöhnlichen Lebensweg nach: Es führt von der Kindheit in Bosnien über das Attentat von Sarajevo 1914 bis zu Andrics Zeit als Diplomat des Königreichs Jugoslawien in Hitlers Berlin. Diesen bewegten Zeiten folgen Jahre im von den Deutschen okkupierten Belgrad, als Andric in völliger Zurückgezogenheit die großen Romane schreibt, die ihm Weltruhm einbringen werden.
Paul Zsolnay Verlag, 496 Seiten, € 28,00
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Jürgen Martschukat
Das Zeitalter der Fitness
Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde

Wer nicht fit ist, ist irgendwie außen vor. Und wer dick ist, erst recht. Unsere Körper sind unser Kapital. Fitness ist ein Statement. Der Historiker Jürgen Martschukat erzählt, wie wir dahin gekommen sind. Warum werden Manager zu Marathonläufern? Was hat es mit Michelle Obamas "Let’s-Move"-Programm auf sich? Tatsächlich ist Fitness mehr als erfolgreich Sport zu treiben. Wer sich fit hält, übernimmt Verantwortung. Für sich und die Gesellschaft. Er zeigt sich leistungsfähig - ob in der Arbeitswelt, beim Militär oder beim Sex. Eine Bilanz zum Verhältnis von Körper und Macht im neoliberalen Zeitalter - vielleicht ist das Leben als Couchpotato die moderne Form des Widerstands.
S. Fischer Verlag, 352 Seiten, € 25,00
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Jens Bisky
Berlin
Biographie einer großen Stadt

Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als "Place to be" der Goldenen Zwanziger. All das wird bei Bisky erfahrbar, genauso aber auch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die spannungsgeladene Atmosphäre nach 1945, als sich hier die großen Machtblöcke gegenüberstehen.
Rowohlt Berlin Verlag, 976 Seiten, € 38,00
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Michi Strausfeld
Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren
Lateinamerika erzählt seine Geschichte

Ein Blick auf die Geschichte Lateinamerikas - erklärt und erzählt von den Autoren des Kontinents. Geschrieben von Michi Strausfeld, die für den Boom der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland seit den 1970er Jahren maßgeblich verantwortlich ist. Und ergänzt mit persönlichen Porträts der führenden Autoren, die sie alle kannte.
S. Fischer Verlag, 576 Seiten, € 26,00
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Ernst Dronke
Berlin

Mit Ernst Dronke schauen wir auf Berlin - und zugleich auf eine ganze Epoche der Krise, auf das Europa im Vormärz kurz vor der Revolution von 1848/49. Als Journalist und "Junghegelianer" in den 1840er-Jahren hat sich der Koblenzer Gelehrtensohn mitten hineingeworfen in die Widersprüche und Spannungen einer Metropole zwischen preußischem Militarismus und Berliner Schnauze, zwischen einem allgegenwärtigen Beamten- und Polizeiapparat und dem Elend ganzer Bevölkerungsschichten.
Verlag Die andere Bibliothek (Foliobände), 415 Seiten, € 58,00
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Besondere Empfehlung des Monats von Hermann Parzinger:

Mischa Meier
Geschichte der Völkerwanderung
Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.

Wie oft Menschen zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert n. Chr. tödliche Furcht vor herandrängenden Heeren fremder Völker empfunden haben, zeigt Mischa Meier in seiner Darstellung der Völkerwanderungszeit. Sie beinhaltet die Geschichte des späten Imperium Romanum sowie die Geschichten der nachrömischen Herrschaftsbild ungen im Westen, jene des frühen Byzantinischen Reiches, aber auch die des frühen islamischen Kalifats bis zum Ende der Umayyadenzeit (750). Sie führt den Leser von der europäischen und nordafrikanischen Atlantikküste bis zu den zentralasiatischen Knotenpunkten der Seidenstraße, nach Nordindien und zum Hindukusch, von Skandinavien und Britannien im Norden bis nach Arabien im Süden. Sie macht vertraut mit den dramatischen Ereignissen dieser Zeit und den damit einhergehenden tiefgreifenden Wandlungsprozessen.

Dieses über 1.000 spannend zu lesende Seiten umfassende opus magnum stellt zweifellos die umfassendste Geschichte der Völkerwanderungszeit dar, weil sie einen souveränen Bogen vom Beginn erster Bevölkerungsverschiebungen im 3. bis zur Entstehung der nachrömische Großreiche im 7./8. Jahrhundert schlägt und dadurch den weltgeschichtlich so bedeutenden Umbruch vom Altertum zum Mittelalter, der bis heute nachwirkt, in einem größeren Kontext neu begreifbar macht: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftsgeschichtlich, religiös und kulturell. Da wir derzeit wieder Zeugen umfassender Wanderungsbewegungen sind, deren Ende wir noch nicht absehen, ist dieses Thema aktueller denn je.
Hermann Parzinger

C.H. Beck Verlag, 1532 Seiten, € 58,00
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter (Wien); Peter Ehmer, WDR 5; Dr. Eike Gebhardt; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Literaturarchiv Marbach; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz; Prof. Dr. Joachim Treusch, Jacobs-University, Bremen; Dr. Andreas Wang; Michael Wiederstein, Schweizer Monat; Prof. Dr. Harro Zimmermann; Stefan Zweifel, Schweiz

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