Die Teufelskreise des Technizismus und das gute Leben

Bild: Pietro De Grandi/unsplash.com

Warum eine wohlverstandene Vernunft des guten Lebens nicht zustande kommt und auch nicht gesellschaftlich dominant wird

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Es ist schon alles gesagt, nur nicht von allen.

Karl Valentin

Für die führenden Wirtschaftsnationen ist die Kombination von Technologien, naturwissenschaftlichem Wissen und produktivitätssteigernden Prozessen von zentraler Bedeutung. Die problematische Verselbständigung dieser Kombination bezeichne ich als "Technizismus".

Dieser Artikel fragt, woraus sich der Technizismus speist und warum er expandiert. "Teufelskreis" ist der volkstümliche Ausdruck für eine positive Rückkopplung oder einen circulus vitiosus. Die Analyse des Technizismus hilft dabei, Voraussetzungen von gegenwärtigen Debatten zu klären, die in ihnen häufig nicht ausreichend zum Thema werden. Beispiele für diese Kontroversen sind die Diskussion über "Postwachstum" und die Kritik am "Transhumanismus".

Die Expansion des Technizismus

Die Analyse der gesellschaftlichen Realität von Technologien unterscheidet zwischen deren für die kapitalistische Ökonomie typischen Formen und "Sachzwängen", die für die moderne Zivilisation charakteristisch sind. In denjenigen modernen Gesellschaften, in denen die kapitalistische Ökonomie herrscht, lässt sich der Technizismus nicht rein vorfinden.

Dieser Artikel isoliert den Technizismus wie einen Faktor in einem Experiment. Ausgeklammert werden kapitalismusspezifische Ursachen und Formen von Technik.1

a) Interessen und Mentalitäten, die an Momenten der hochmodernen Technologien und Naturwissenschaften anknüpfen und ursächlich werden für deren Expansion

1) Die Erhöhung der Produktmenge, die Verbesserung der materiellen Versorgung und die Steigerung der Produktivität sind solche Effekte, die fast jedwede Produktivität und Technik legitim erscheinen lassen.

2) Ein effizientes Verhältnis zwischen Aufwand/Kosten und Ergebnis wird erst bei Produktion mit hoher Stückzahl möglich. Kostspielige Technik erfordert hohe Auslastung. Letztere ist nur bei hoher Zahl von Produkten möglich.

3) Gruppen wie Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler haben ihre eigenen Interessen an hoher Komplexität und an der Bewältigung von Extremanforderungen. Diese Interessen erweisen sich dann als Sonderinteressen, wenn der Gebrauchswert der technischen Innovation für die Bevölkerung eher gering ist, die Konstruktionsanforderungen der Technologien sowie die entsprechende "Herausforderung" des Technikers und Naturwissenschaftlers aber exponentiell steigen.

Beispiele dafür sind Militärflugzeuge mit besonders hohen Anforderungen an Geschwindigkeit und Wendigkeit sowie die Raumfahrttechnologie. Gewiss sind nicht die genannten Gruppen, sondern Staat oder Unternehmen die Auftraggeber entsprechender Forschung, Entwicklung und Produktion. Der Faible für technologische Komplexität unerachtet ihres "humanen" Gebrauchswerts bildet ein Moment, das den Technizismus bestärkt.

Utopie der kurzen Wege - Hoffnung auf Versachlichung

Von Enrico Fermi, der 1938 den Nobelpreis erhielt und führend an der Entwicklung und dem Bau der ersten Atombombe beteiligt war, ist als Antwort auf Einwände der Satz bekannt: "Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik." (Otto Ullrich, Technik und Herrschaft)

4) Die Attraktivität der vergleichsweise unmittelbaren Rückmeldung und die Bequemlichkeit der Orientierung an technokratischer Problembearbeitung.

Zur technizistischen Mentalität gehört eine Utopie der kurzen Wege. Wirkungen auf möglichst direkte Weise zu erzielen heißt z. B., gegen Krankheiten Schutzimpfungen zu verabreichen und nicht Lebensbedingungen zu verändern, die das Auftreten der Krankheiten begünstigen.

An Technik fasziniert, dass sich Irrwege an der Sache selbst direkt als solche zeigen. Könnerschaft wird vergleichsweise direkt evident, Pfuschertum widerlegt sich offensichtlich. Entweder "es funktioniert" oder nicht. Die Effizienzorientierung bezieht sich auf unmittelbar kalkulierbare Ursache-Wirkungsketten. So komplex diese für sich genommen sein mögen, sie bleiben unterkomplex gegenüber ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Problemen.

5) Die mit der Technik verbundene Hoffnung auf die Versachlichung.

Viele meinen, "in der Technik den absolut und endgültig neutralen Boden gefunden zu haben".2 Alle Probleme sollen sachlich-technisch bestimmbar und auf diese Weise lösbar werden. Die technizistische Herangehensweise formuliert Probleme, die das nicht sind, so um, dass technologische Methoden greifen. Und sie drängt Probleme, bei denen das nicht gelingt, an den Rand der Aufmerksamkeit.

Eine implizite Maxime der entsprechenden technokratischen oder sozialtechnologischen Mentalität lautet:

Die Welt ist einfach komisch, wenn man sie vom technischen Standpunkt ansieht; unpraktisch in allen Beziehungen der Menschen zueinander, im höchsten Grade unökonomisch und unexakt in ihren Methoden.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Technizisten und Technokraten halten wenig von öffentlichen Debatten. Demokratie erscheint ihnen tendenziell als Zeitverschwendung. Die Unterscheidung zwischen (naturwissenschaftlicher sowie technologischer) Rationalität und Vernunft ist dem Technizismus fremd.

Er kennt nur die Rationalität, die wirklich oder vermeintlich "von Beweis zu Beweis fortschreitet und für strittige Meinungen keinen Raum lässt".3 Im Unterschied dazu trägt "der phronimos, der Besonnene, der Komplexität der Situationen Rechnung, der Pluralität der Welten [...] und v. a. den Wertkonflikten" (Serge Latouche, Die Unvernunft der ökonomischen Vernunft). "Die vernünftige Vernunft ist plural und hat viele Kriterien" (Latouch). Es geht um das "reifliche Urteil, das sich aus kontroversen Debatten herausgebildet hat" (Ebd.).

6) "Die materiemanipulierenden Wissenschaften" versuchen, "die vorgefundene Natur in eine beliebig verfügbare zweite Natur umzuwandeln".

Alles Vorfindbare wird als Material angesehen, das in immer kleinere Bestandteile zerlegt werden darf, um es nach Gutdünken für neue Produkte wieder zusammenzuwürfeln" (Otto Ullrich, Technik und Herrschaft).

Naturwissenschaft ist schon in der Gewinnung ihrer Erkenntnisse immanent auf Technik angewiesen. Die Allianz von Technizismus und Naturwissenschaft orientiert sich implizit an der "Utopie einer künstlichen Gegenwelt als der Schöpfung der Forschung, die diese Welt aus ihrer Erkenntnis der Kräftefunktionen hervorbringt.

Diese Gegenwelt sekundärer Realität drängt die primäre Wirklichkeit der Natur durch künstliche Isolate zurück, die, aus Stoffen und Kräften dieser Natur abstrahiert, nun zu Zwecken, ja zu Funktionen dienen, die unsere Erde nicht kennt. Solche Manipulierung zielt von dem Ersatz der Naturstoffe dieser Erde durch künstliche Stoffe über die Überbietung tellurischer Kräfte durch die atomare kosmische Kraft bis zur Umwandlung der Organismen, um Pflanzen und Tiere, ja selbst den Menschen zu ändern und zu ersetzen".4

In die Richtung dieser künstlich reinen Werk- und Arbeitsstoffe drängen auch die Erfordernisse hochmoderner Produktion.

Die "mangelnde Flexibilität der Maschinen und Produktionsanlagen" sowie "ihre Unfähigkeit, auf Eigenheiten und Besonderheiten des Materials Rücksicht zu nehmen", führen "zum weitgehenden Verschwinden naturnaher Werk- und Arbeitsstoffe im industriellen Sektor.

Der Zurichtungsprozess

Der Zurichtungsprozess der industriell zu verarbeitenden Stoffe in der Grundstoffindustrie, angefangen von der Metallverhüttung über die Stahlwerke, die Zementindustrie, die Glashütten und die chemische Industrie bis hin zur Zellstoffindustrie ist aber eine der größten Quellen für die heutige alltägliche Vergiftung und Umweltbelastung. Wo gereinigt wird, fällt schließlich ‚Dreck’ an, darunter sind besonders giftige, z. B. krebserregende Stoffe wie die Schwermetalle oder die Aromate, die natürlicherweise nur in geringsten Konzentrationen in der Biosphäre vorkommen".5

Die radikale Steigerung der Eingriffstiefe - extrem bei Atom- und Gentechnologie - führt zur Konstruktion naturfremder Substanzen. Die zahlreichen "naturfremd (xenobiotisch) chlorierten Kohlenwasserstoffe [...] sind, wegen ihrer Naturfremdheit, weil die Natur sie im Lauf ihrer Evolution nicht in ihre Stoffwechselkreisläufe einbauen konnte, weil sie keine Wege des adäquaten Umgangs, insbesondere keine Wege ihres natürlichen Abbaus entwickeln konnte, meist Anreicherungsgifte und oft erbgut- und fruchtschädigend und krebserregend. Sie reichern sich, weil sie nicht abgebaut werden können, in der Umwelt und in den Organismen an".6

Demgegenüber geht es darum, "die Stoffe möglichst naturbelassen bzw. naturnah zu verwenden und zu verarbeiten, wie es als Maxime der Vollwerternährung und des biologischen Landbaus, der Naturkosmetik, Naturheilkunde, des ökologischen Bauens, des Gebrauchs von Naturfasern und Naturfarben, von biologisch abbaubaren Wachmitteln, kurz, als Konzept einer 'Sanften Chemie' zum Teil schon jahrzehntelang propagiert und erfolgreich praktiziert wurde".7

Otto Ullrich spitzt die Aussage thesenhaft zu: "Im Industrialismus gibt es einen falschen Umgang mit den Naturstoffen, es werden die falschen Stoffe verwendet, und die Eingriffstiefe ist viel zu groß."

7) Die Fokussierung auf die Mittel.

Die Wirkungsweisen der Mittel werden durchprobiert. Auch die moderne Kunst orientiert sich daran, "die Ausdrucksmittel, die Begriffszusammenhänge und Methoden mit größter Beweglichkeit und Voraussetzungslosigkeit [...] durchzuspielen und auszuschöpfen, sozusagen aus der Technik den Gehalt sekundär hervorspringen zu lassen".8 Den "Spitzenleistungen" der modernen Kunst ist die entsprechende "Laboratoriumsgesinnung" dann auch anzumerken.9 Dass technische Mittel häufig ein Potential enthalten, welches den Zweck, aufgrund dessen sie entwickelt wurden, übersteigt, ist nichts Illegitimes.

Dieses Überschusspotential der Mittel bzw. die den "ursprünglichen" Zweck überschreitenden Anwendungsmöglichkeiten werden oft erst in der Anwendung der Mittel oder in ihrer Übertragung auf andere Bereiche entdeckt. Eine Gesellschaft, die die Technologieentwicklung bewusst gestaltet, zügelt allerdings den Drang, das, was technisch machbar ist, auch anzuwenden.

Technizismus bedeutet, den Fortschritt, den die technische Einstellung und das technologische Wissen darstellen, unmittelbar aufzufassen. Die Leistung des analytischen Verstandes besteht darin, ein uns kompakt und ungeschieden vorkommendes Ganzes in verschiedene Teile, Momente und Ebenen zu zergliedern. Von der Seite der Ganzheit gesehen erscheint dieses Vorgehen als Akt ihrer Zerstörung.

Dasselbe Geschehen kann aus der Perspektive des Besonderen als "Aufschließung von etwas, das unter Verschluss gehalten ist", gelten, als "Absonderung von etwas, das in seiner Umgebung gefangen ist", und als "Beiseiteschaffen von etwas, das im Großen und Ganzen untergeht".10

Das Wissen um technologisch ausnutzbare Gesetzmäßigkeiten und das technische Knowhow herauszuarbeiten aus "ganzheitlichen" Weltbildern, geschlossenen sozialen Zusammenhängen und kreishafter einfacher Selbstreproduktion des Gegebenen ist eine Emanzipation.