Das Zeitalter der Uneigentlichkeit hat begonnen

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Uneigentlichkeit ist die Form des sich vollziehenden dritten Jahrtausends. Wie sie uns alle betreffen wird und warum sie uns ängstigen sollte. Eine philosophische Spurensuche

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Spuren nehmen ihren Ausgang von einem Anbeginn, der stets wesentlich mehr enthält, als bloß temporäres Beginnen. Derjenige, der vom Anfang weiß, kann Zeugnis ablegen. Spuren drohen in der digitalisierten Informationswelt verloren zu gehen, milliardenfach überschrieben und zu beliebigen Anfängen degradiert zu werden.

Das menschliche Leben droht künftig im Dazwischen zu verlaufen, in einem schmalen Grenzstreifen zwischen Stillstand und Geschwindigkeit. Durch die Beschleunigung werden Distanzen annulliert, doch durch die Verringerung des Abstandes entsteht keine Nähe. Der Uneigentlichkeit ist nicht mit Furcht zu begegnen. Denn das Fürchten ist stets auf innerweltlich Konkretes gerichtet. Uneigentlichkeit sollte hingegen ängstigen, denn sie rekurriert auf jenes Unbestimmte, das uns in unserer Lebenswirklichkeit besorgt.

Zwischen offenem Wort und freier Rede

Das Wahrsprechen, die sogenannte Parrhesie, stellt jenes sprachliche Nachleuchten dar, das sich im Diskurs zur Wahrheit verdichtet. In Zeiten zunehmender Erosion von Bedeutung und vermehrtem rhetorischem Austausch des Inhalts durch die Form wird das Wahrsprechen wieder überlebenswichtig. Parrhesie ist ein vielgestaltiger Begriff, der an kulturellen Sprachgrenzen beheimatet ist, zwischen free speech und franc-parler, zwischen ungezügelter Redefreiheit und der Begnügungstendenz respektvollen Insinuierens.

Im Aufstehen der antiken Demokratie und der damit verbundenen Umverteilung von Macht gelangten Bezeichnungen im Umfeld des Begriffes Gleichheit sprachlich in Umlauf. Das freie Sprechen unter Gleichen, als Möglichkeit zu freier Rede, ebenso wie das auf den offenen Diskurs ausgerichtete Wahrsprechen. Parrhesía, das freie, zwanglose, offene Wort, siedelt auch gegenwärtig in einem Bereich, in dem die Grenzen zum Anderen vielfach berührt, übertreten und eingerissen werden. Doch darüber hinaus stellt das Wahrsprechen auch sicher, dass zwischen den Sprechenden und Hörenden ein Verhältnis des Vertrauens entsteht.

Nicht nur in der Antike, sondern auch für die Gegenwart bietet die Parrhesie daher eine Grundlage dafür, dass in einem gesellschaftlichen Klima des Vertrauens theoretisch jegliche Form der Gewaltherrschaft verhindert werden kann. Mit diesem Ansatz gerät das offene Wort des Wahrsprechens jedoch auf Kollisionskurs mit der uneigentlichen Redeweise. Die Parrhesie befindet sich seit der Antike auf sprachlichem Kampfboden, in offener Gegnerschaft zur Rhetorik und deren sprachlicher Macht. Um den verbalen Bereich des Uneigentlichen auszuloten, wird das Wahrsprechen der Rhetorik als zweckorientierter Sprachgewalt gegenübergestellt. Trotz aller ihrer Beteuerungen war und bleibt die Rhetorik selten der Wahrheit, häufig jedoch dem Glaubenerwecken verpflichtet.

Der Wahrscheinlichkeit nachspürend wird die Parrhesie auch mit der Metapher kontrastiert, jenem seit der Antike diskutierten Umgang mit uneigentlichen Bedeutungen. Im gegenwärtigen soziopolitischen Kontext hat sich die Metapher im textuellen Spielraum zwischen Wahrheit und Lüge eingenistet. Einerseits als verführerisches Agens des Uneigentlichen an der Rede, andererseits, um als Bindeglied die unüberbrückbare Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem provisorisch zu kitten. Wahrsprechen ist auch jenes offene Wort, das von Rhetorik befreit, eine unversehrte Redeweise darstellt und Mitteilungen hinsichtlich des Eigentlichen und Unverborgenen beinhaltet.

Der Text ist ein Auszug aus der "Vorrede" des neuen Buchs von Paul Sailer-Wlasits: "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen. Ein Essay".

Der drohende Verlust des Ursprungs

Uneigentlichkeit entzieht sich ebenso wie das Wahrsprechen und die Zeugenschaft einer einfachen Definition. Sie ist als eine Art Territorium vorstellbar, dessen Fläche begrenzt, sichtbar abgesteckt ist. Die jeweiligen Begrenzungspunkte sind quer über die Fläche hinweg miteinander verbunden und entsprechen jeweils Bedrängnissen der uns umgebenden Lebenswirklichkeit. An den Schnittpunkten der Verbindungslinien entsteht Uneigentlichkeit. Diese ist jedoch nicht als Punkt oder Schnittfläche vorzustellen, sondern als Funktion des Verbundenseins jener Linien, die fortlaufend zutage treten und sich ständig aufs Neue konstituieren.

Um die Uneigentlichkeit zu erkunden, erfolgt auf diesem Territorium der erste Hinblick auf die Spur, auf das Suchen nach Verbindungslinien. Fährten und Spuren in die Vergangenheit versprechen Halt, indem sie Sicherheit hinsichtlich des Ursprünglichen vermitteln, wie Zeugen, die von einem Anfang und einer Herkunft berichten.

In der unaufhaltsamen Beschleunigung der Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends drohen diese außergewöhnlichen Verbindungslinien zum Ursprung verloren zu gehen. Spuren stellen besondere Arten des Verweisens dar, wertvolle, seltener werdende Formen des Sichtbarmachens. In Zeiten der digitalen Beschleunigung, der Technisierung und Ökonomisierung von Gewissheitsansprüchen prallen diese Verhältnisse aneinander. Die Gefahr wächst, dass zeugenloses, digital austauschbares Ereignen auf dem Vormarsch sein könnte.

Die Rückgabe schonungsloser Wahrheit

Paradigmenwechsel zogen im Laufe der Weltgeschichte stets eine Zunahme von Geschwindigkeit nach sich. Der gegenwärtig im Entstehen begriffene digitale Veränderungsprozess und die exorbitante Zunahme von technologischer und ökonomischer Geschwindigkeit sind mit politischer Macht verknüpft. Diese Beschleunigung erfordert aller Voraussicht nach umfassendste Anpassungsleistungen und eine nahezu vollständige Selbstüberantwortung des Individuums an die Veränderung. Die Beseitigung räumlicher und zeitlicher Distanzen durch die Zunahme von Geschwindigkeit ist nur ein Mittel zum Zweck. Ein Nebenprodukt auf dem Weg disproportionaler Beschleunigung mit dem Ziel ubiquitäre Verfügbarkeit von Information in realtime zu erzwingen.

Die Verkürzung der Zeithorizonte, die Konditionierung großer Bevölkerungsteile auf immer kürzere time-frames stellt kein Phänomen dar, sondern ist Symptom jener globalen Geschwindigkeitszunahme, die sich weitgehend unbegleitet, ungehindert und ohne nennenswerte ethische Rahmenbedingungen weiter fortsetzt. Dieser Paradigmenwechsel zwischen Stillstand und Raserei könnte fortschreiten, bis kulturelle Differenziertheit kein anerkanntes Ziel mehr darstellt, sondern nur noch als Behinderung des raschen digitalen Vorankommens wahrgenommen wird. Hochgradig konformes Verhalten in der digitalen Welt könnte zu einem gesellschaftlichen Wert umcodiert und durch Geschwindigkeit im digitalen Vorwärtskommen belohnt werden.

Die Verkürzung der time-frames birgt überdies die Gefahr, dass sich Menschen aufgrund ihres zunehmend in realtime ablaufenden Lebens künftig noch weitaus mehr in die Sklaverei des Jetzt begeben. Uneigentlichkeit als Form des dritten Jahrtausends wird sich im Unterschied zur kopernikanischen Wende nahezu unsichtbar, schleichend und unentrinnbar vollziehen. Uneigentlichkeit wird sich der Menschen bemächtigen, nur wenige werden der Entindividualisierung widerstehen.

Paul Sailer-Wlasits, geboren 1964, ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Forschungsgebiete: Sprachphilosophie, Hermeneutik, Metaphorologie, Diskursanalyse, Ästhetik, Philosophie der Mythologie und vorsokratische Philosophie. Monografien: Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache (2016). Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens (2012). Hermeneutik des Mythos. Philosophie der Mythologie zwischen Lógos und Léxis (2007). Die Rückseite der Sprache. Philosophie der Metapher (2003).