Die humane Katastrophe in Idlib als Keule gegen Syrien und seine Verbündeten

Flüchtlingscamp in Nordsyrien. Bild: UNICEF/Nour Alshami

In westlichen Presseorganen überschlagen sich Berichte über unbeschreibliche Not in den Auffangstellen nahe der türkischen Grenze. Wie glaubwürdig sind die Angaben, auf welchen Quellen beruhen sie?

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Wurde der syrischen Regierung früher der Einsatz von Fassbomben und chemischen Waffen zur Last gelegt, so wird ihr und den russischen und iranischen Verbündeten jetzt vorgeworfen, für eine beispiellose Flüchtlingswelle verantwortlich zu sein. Die Zahlen bewegen sich zwischen 700.000 und einer Million, es handelt sich augenscheinlich um grobe Schätzungen. Seit Wochen beherrscht dieses Thema die Medienberichte zum militärischen Konflikt in Idlib. Emotionen werden angeheizt, auf Faktenchecks und fundierte Analysen wird weitgehend verzichtet.

Neben der Flüchtlingskrise geriet seit einigen Tagen die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Türkei in den Fokus medialer Berichterstattung. Trotz bislang kritischer Distanz zur türkischen Führung wird dieser nun bescheinigt, sich für ein humanes Anliegen einzusetzen: die Eindämmung der Flüchtlingsströme. Weder wird die völkerrechtswidrige Überschreitung der Grenze durch türkisches Militär angeprangert, noch die Duldung und mittlerweile offene Unterstützung terroristischer Gruppierungen wie der HTS (frühere Al-Nusra-Front). Durch den verharmlosenden Begriff "Rebellenhochburg" wird dem westlichen Medienkonsumenten suggeriert, es ginge um einen kriegerischen Machtkampf zweier Streithähne, dem angesichts der "katastrophalen humanitären Lage" Einhalt zu gebieten sei. Da die syrische Regierung sich weigert, wird sie zum Sündenbock erklärt.

Wenn den Flüchtlingszahlen eine dermaßen große Bedeutung beigemessen wird, dann ist eine nähere Untersuchung der Angaben angebracht. Bekanntermaßen kommt es bei militärischen Konflikten allgemein zur Flucht von Zivilisten. Gibt es keine humanitären Korridore zwischen den Konfliktlinien, dürften sich die Flüchtlingsströme ins Hinterland ergießen. Im Fall Idlibs wird hervorgehoben, dass sie sich vornehmlich in Richtung der türkischen Grenze bewegen.

Wir erinnern uns an die dramatischen Berichte aus Ost-Aleppo Ende 2016, als nach Medienberichten Hunderttausende quasi eingeschlossen waren. Ein Entkommen durch humanitäre Korridore wurde durch islamistische Kämpfer weitgehend verhindert. Ebenso haben die zu gleicher Zeit stattgefundenen Bombardierungen von Raqqa und Mosul durch US-amerikanisches Militär die Zivilbevölkerung hart getroffen und Flüchtlingsbewegungen verursacht. Hierzu fand sich in westlichen Medien allenfalls eine Randnotiz (Pulverfass Idlib). Zwar musste Regierungssprecher Steffen Seibert eingestehen, dass es Kollateralschäden durch westliche Bomben gab. Der Unterschied sei aber, dass das syrische Militär den Tod von Zivilisten billigend in Kauf nehmen würde. Die Reaktionen der Bürger nach der Befreiung dokumentierten sichtbar das Gegenteil, was nicht einmal westlichen Medienkonsumenten verborgen blieb.

Die Zahl der in Ost-Aleppo eingeschlossenen Bürger wurde erheblich nach unten korrigiert, als die Befreiung kurz bevorstand. Sprach der UN-Gesandte für Syrien Staffan de Mistura noch Ende November von 255.000 Personen, hieß es zwei Wochen später, es würden sich 50.000-100.000 Bewohner in Ost-Aleppo aufhalten. Allein die große Bandbreite der Schätzungen lässt den Schluss zu, dass die Zahlen nicht auf Recherchen vor Ort beruhten. Je kritischer sich Medien und Politiker zur syrischen Führung positionierten, desto höher waren die verwendeten Zahlenangaben.

Die Suche nach den Primärquellen

Vor diesem Erfahrungshintergrund sollten ebenfalls die im Kontext der militärischen Konfrontation in Idlib kolportierten Zahlen kritisch beleuchtet werden. Handelt es sich tatsächlich um nahezu eine Million Flüchtlinge, dann ist die Lage als besorgniserregend einzustufen. Beträgt die Zahl hingegen einige Zehntausende, dann kann davon ausgegangen werden, dass es sich vornehmlich um islamistische Kämpfer und deren Familienangehörigen handelt.

Wie bei den Stellungnahmen zur Lage in Ost-Aleppo verweisen Medien auch diesmal auf UN-Berichte. Die oft verwendete Redewendung "nach UN-Angaben" ist dabei irreführend, da sie den Tatbestand verdeckt, dass es sich um Positionen von Mitgliedern aus UN-Unterorganisationen handelt und nicht etwa um Beschlüsse des Sicherheitsrats oder der Vollversammlung.

Eine jener Unterorganisationen ist der UN-Flüchtlingskommissar. Wer allerdings Quellenangaben zu den Flüchtlingsströmen in Idlib auf der Webpage der Organisation erwartet, dürfte enttäuscht sein. Wie in vergleichbaren früheren Situationen lässt sich vermuten, dass die Zahlen von Organisationen stammen, die im "islamistischen Refugium" Idlib unbehelligt agieren können. Dass die Türkei die Angaben bestätigt und der Westen sie sich zu eigen macht, ist deren politischen Interessen geschuldet.

Der UN-Flüchtlingskommissar wird fast ausschließlich aus Mitteln westlicher Staatsbudgets finanziert, der Vorsitz befindet sich seit der Jahrtausendwende in der Hand von Nato-Staaten. Daraus soll nicht geschlussfolgert werden, die Organisation würde sich in jeder Frage an den Erwartungen westlicher Regierungen orientieren. Der Verdacht erscheint im Fall Idlib dennoch nicht abwegig. Es soll andererseits hervorgehoben werden, dass die UNHCR seit ihrer Gründung im Jahr 1950 einen verdienstvollen Beitrag zur Bewältigung vieler Flüchtlingsprobleme geleistet hat, weshalb sie zweimal mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Dies liegt allerdings 39 bzw. 66 Jahre zurück.

Ebenso häufig wird auf den UN-Nothilfekoordinator und OCHA-Vorsitzenden Mark Lowcock verwiesen, er wird unter anderem in einem "Zeit"-Artikel mehrfach zitiert. Der Bericht ist nahezu identisch mit dem des UN-Flüchtlingskommissars, was die Verwendung gleicher Quellen anzeigt. Um welche es sich bei der OCHA handelt, fasst Wikipedia wie folgt zusammen: "Hilfsorganisationen, UN-Organisationen, staatliche Quellen und Pressemeldungen". Eigene Recherchen an den Orten des Geschehens finden offenbar nicht statt. Wenn Lowcock auf Informationen Dritter angewiesen ist, dürfte er den von seinem Landsmann James Le Mesurier gegründeten "Weißhelmen" eher vertrauen als der syrischen Regierung. Dass im "Lagebericht" der Organisation vom 13.2. der bekannte Dschihadist Bilal Abdul Kareem zu Wort kommt, untermauert diesen Verdacht.

Die "Welt" bezieht sich wiederum auf die Welthungerhilfe. Die Organisation ist nur in Deutschland aktiv, sie wird zu 80 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert. Als Informationsquelle gibt sie auf ihrer Webseite UN-Kreise an, d.h. es gibt auch hier keine vertrauenswürdigen Berichte aus erster Hand. Dies bleibt im Artikel unerwähnt, sodass suggeriert wird, es würde mit der Welthungerhilfe einen weiteren Zeugen für die Flüchtlingsströme in Idlib geben.

Verschwiegene russische Einwände

Über die Position Syriens und dessen Verbündeten wird nur verlautbart, dass sie die militärischen Aktionen fortsetzen wollen. Einschätzungen wie auch Vorwürfe des Vorsitzenden des russischen Versöhnungszentrums Oleg Schurawljow finden in westlichen Medien keine Erwähnung. Wie während der Eroberung Ost-Aleppos nachweislich geschehen, unterstellt Schurawljow den islamistischen Terroristen auch jetzt, Zivilisten als menschliche Schilde zu missbrauchen und die humanitären Korridore zu blockieren. Solche seien an verschiedenen Übergangsstellen errichtet worden, sie könnten aber nicht genutzt werden.

Da sich der Flüchtlingsstrom nach westlichen Angaben in Richtung der türkischen Grenze bewegt, kommt nur ein Weg infrage: entlang der Hauptverkehrsstraße M45, an deren Ende sich der einzige Grenzübergang befindet. Demnach wäre anzunehmen, dass die Route durch die Flüchtenden total verstopft ist. Nach russischen Beobachtungen haben die Transportwege in Idlib jedoch wie gewohnt funktioniert, wodurch die Türkei überhaupt in der Lage war, dorthin große militärische Kräfte zu verlegen.

Die russische Seite bestreitet nicht die Flucht von Zivilisten, sie hält die kursierenden Zahlen jedoch für gezielt nach oben manipuliert. Sie verweist ferner darauf, dass bislang keine Belege für derartig große Flüchtlingsströme präsentiert wurden. Sollte die russischen Angaben den Tatsachen entsprechen, dann würde dies den Verdacht bestärken, dass von interessierter Seite wissentlich falsche Angaben verbreitet werden. Über die tatsächlichen Zahlen lässt sich nur spekulieren. Auch Jan Keetman geht von mehreren hunderttausend Flüchtlingen aus, vermeidet aber eine klare Festlegung.

Die Verwendung nicht überprüfbarer Zahlenangaben dient ohne Zweifel dem Zweck, die syrisch-russisch-iranische Kriegspartei als Auslöser einer humanitären Katastrophe erscheinen zu lassen. Um die eigene Glaubwürdigkeit zu stützen, werden Gegenargumente der russischen Seite verschwiegen. Dass für die Betroffenen auch deutlich kleinere Flüchtlingsströme unsagbares Leid bedeuten, steht außer Frage. Dies sollte der syrischen Kriegsführung Schranken setzen, aber auch ein Engagement des Westens zur Offenhaltung humanitärer Korridore verlangen. Jede Kritik westlicher Regierungen an der syrischen Führung und deren russischen und iranischen Verbündeten ist zudem wenig glaubwürdig, solange das Recht der Syrer zur Wiedererlangung der staatlichen Souveränität über Idlib nicht anerkannt wird.

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