Psychische Gesundheit und Sinngebung

Gesundheit ist mehr als nur ein funktionierender Körper

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Vor Kurzem hatte ich noch etwas Zeit am Bahnhof übrig und stöberte durch eine kleine Buchhandlung. Gleich an deren Eingang gab es eine Auslage mit der Top 10. Mir fielen die Titel auf, die auf Geschichte, Philosophie und Sinngebung schließen ließen. Überrascht schaute ich, ob dies hier nur für Ratgeberliteratur gedacht sei - doch zwischen den genannten Büchern standen auch ein paar Romane. Ich wunderte mich darüber, dass sich so viele Menschen für tiefgehende Lebensfragen interessierten.

Ich verließ die Buchhandlung mit einem Exemplar des (niederländischen) Buches "Der Sinn des Lebens: Gespräche über die Essenz unseres Daseins", geschrieben von Fokke Obbema, Redakteur der großen niederländischen Tageszeitung "de Volkskrant". Die erst im September 2019 erschienene Interviewsammlung war im Januar 2020, als ich sie kaufte, bereits in siebter Auflage erschienen. In seiner Einleitung schreibt der Autor über seinen Herzstillstand im Jahr 2017, den er nur mit viel Glück (und vor allem dank seiner Frau) überlebte. Das erinnert an die Geschichte des Regisseurs Godfried Beumers im folgenden und letzten Kapitel dieses eBooks.

Die Erfahrungen Obbemas, der übrigens in der Zeit vor dem Herzstillstand nicht nur am Arbeitsplatz gut funktionierte, sondern auch viel mit dem Rennrad unterwegs und körperlich sehr fit war, und Beumers' machen deutlich, dass Schicksalsschläge und Krankheiten uns in jeder Lebenslage widerfahren können. Manchmal kommen sie schleichend und langsam, manchmal aber auch völlig unerwartet und plötzlich.

Aus eigener Erfahrung

Als ich 2018 von einer längeren Indienreise zurückkehrte, wo ich auch eine Yogalehrerausbildung gemacht hatte, wurde bei mir ein großer Gallenstein gefunden. Ich hatte schon seit Jahren vielleicht einmal im Monat starke Schmerzen mit Erbrechen und/oder Durchfall gehabt, im August/September 2018 dann aber schon wöchentlich. Das ließ sich nicht mehr so leicht als "Bauchgrippe" oder "etwas Falsches gegessen" abtun.

Die Chirurgen wollten nach einer Ultraschall-Untersuchung erst sofort operieren, setzten mich dann aber wegen der doch nicht so schweren Symptome auf eine Warteliste: sechs bis sieben Wochen sollte das dauern. In dieser Zeit entzündete sich dann aber meine Gallenblase: Das Muster und auch der Ort der Schmerzen änderten sich; das zerreißende Gefühl im Inneren hörte überhaupt nicht mehr auf, Tag wie Nacht.

Ich musste an das Interview mit Godfried Beumers denken, in dem er von seiner Lebererkrankung erzählt hatte: Die Schmerzen seien so stark gewesen, dass er nach jedem Atemzug nur noch dankbar gewesen sei, wieder einen geschafft zu haben. Mein Hausarzt stellte jedoch keine Entzündung fest und empfahl mir, mich einige Wochen lang mit starken Schmerzmitteln - Oxycodon, das wir aus der Opioid-Krise in den USA kennen - bis zur Operation zu unterstützen.

Da ich von reiner Symptomtherapie noch nie viel hielt, rührte ich die Pillen aber nicht an. Der Arzt hatte mir auch gesagt, dass man dadurch ein vernebeltes Bewusstsein bekomme. So lag ich nur noch im Bett, aß nicht mehr, trank sehr wenig und schlief auch kaum noch. Das Bewusstsein richtete sich abwechselnd auf den Schmerz, dann vielleicht wieder auf den Atem und ab und zu auf einen Gedanken. Ich hätte gerne gelesen oder Tagebuch geschrieben, doch auch dazu waren die Schmerzen zu groß und ich war irgendwann schlicht zu müde.

Als dann aber eines Abends auch Fieber einsetzte, rief ich beim notärztlichen Dienst an. Dieser bestellte mich sofort ins Krankenhaus. Wie ich es mit dem Fahrrad dorthin geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Dort wurde ich sehr schnell in die Notaufnahme verwiesen. Ich hatte gerade einmal einen Jogginganzug an, mein Mobiltelefon (ohne Ladegerät) mitgenommen und eine dünne Jacke. Als mir langsam klar wurde, dass man mich gleich dortbehalten wurde, kam mir noch der Gedanke, dass ich mein Fahrrad an einem ungünstigen Platz gleich neben dem Eingang abgestellt hatte.

Natürlich bin ich sehr dankbar, dass die junge Ärztin vom Dienst noch vor dem Eintreffen der Laborwerte die richtige Diagnose stellte: Gallenblasenentzündung. Man gab mir - intravenös - sofort starke Antibiotika und nach ein paar Stunden nahmen die Schmerzen spürbar ab. Für die Behandlung musste ich ein paar Tage im Krankenhaus blieben. Schließlich war auch die Batterie meines Telefons, die ich schon stark rationiert hatte, völlig aufgebraucht. Damit fiel mein Kontakt zur Außenwelt weg.

Ich hatte aber auch sehr viel Zeit zum Lesen - im Krankenhaus gab es zum Glück einen Kiosk mit ein paar ansprechenden Büchern - und meditierte im Übrigen so viel wie noch nie zuvor in meinem Leben. Pfleger und Ärzte kamen mehrmals in mein Zimmer, sahen mich in Meditationshaltung sitzen und entschuldigten sich spontan: "Oh, ich wollte Sie nicht stören." Dabei kam mir stets der Gedanke: "Wie könnten Sie mich denn stören? Alles ist doch gut."

Anders als Obbema, der von seinem kritischen Zustand übrigens nichts mitbekam, und Beumers schwebte ich nicht in echter Lebensgefahr; aber in einem Land ohne moderne medizinische Versorgung wäre es für mich im Alter von 38 Jahren wohl vorbei gewesen. Für mich war das kein Ansporn, über ein mögliches Leben nach dem Tod zu spekulieren; immerhin bin ich kritischer Philosoph und Agnostiker. Aber mir kam immer wieder der Gedanke, mehr über das Leben vor dem Tod nachzudenken, solange ich es noch selbst gestalten kann.

Menschen, denen ich hinterher von meinen Erfahrungen erzählte, konnten sich nicht gut vorstellen, dass ich in dieser Zeit eigentlich zufrieden mit mir selbst war. Gegen die körperlichen Schmerzen konnte ich nicht viel tun; dagegen, nicht unnötig psychisch zu leiden und beispielsweise meinem Hausarzt permanent Vorwürfe zu machen, konnte ich aber sehr wohl etwas unternehmen. Heute vermisse ich manchmal sogar das Gefühl, mit mir selbst in so engem Kontakt zu sein, und vor allem nichts tun zu müssen, was mir sinnlos erschien.

Körperliche Schmerzen kann man nicht "wegmeditieren". Durch Meditation und das Wissen, dass man selbst nicht mit seinen Gedanken identisch, sondern vielmehr deren Wahrnehmer ist, kann man aber immerhin unnötiges Leiden verringern. Bild: Mit freundlicher Genehmigung der Groninger Künstlerin Elise Madderom

Ich fühlte mich von meinem Körper getragen und schließlich im Krankenhaus auch in sehr guten Händen. Da durch die starke Entzündung das umliegende Gewebe beeinträchtigt war, konnte der Chirurg übrigens wegen des zu großen Risikos einer inneren Verletzung nicht direkt operieren. So musste ich die vollen sechseinhalb Wochen warten.

Der Eingriff verlief schließlich reibungslos und ich wurde am Tag der Operation schon nach Hause geschickt. Mich wunderte, dass man mir ein Organ entnommen hatte - eben die Gallenblase - und ich dort noch nicht einmal Schmerzen spürte. Den kastaniengroßen Gallenstein bewahre ich noch heute im Regal auf, versteckt hinter ein paar Büchern. Meinem ungünstig abgestellten Fahrrad war übrigens auch nichts passiert.

Ost und West

Solche und ähnliche existenzielle Erfahrungen - auch von vielen anderen Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren tiefgreifende Gespräche führte - erwecken in mir den Eindruck, dass uns unser westliches, stark auf Konsum und Produktivität ausgerichtetes Lebensmodell nicht zum Wesentlichen im Leben führt, sondern vielmehr davon weg.

Dass nach einer neuen und repräsentativen Befragung durch den Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland inzwischen fünf Prozent der Bevölkerung regelmäßig Yoga üben - unter den Frauen neun, bei den Männern jedoch nur ein Prozent -, erscheint mir nur zum Teil am herrschenden "Fitnesskult" zu liegen. Denn der tiefergehende, philosophische Yoga führt einen allmählich zum Wesenskern - von dem übrigens im Buddhismus meistens gesagt wird, dass es ihn gar nicht gibt.

Die indische Philosophie liefert also auch keine einfachen Antworten. Meditationstechniken aus dem Buddhismus, dem Yoga oder auch dem Advaita Vedanta, einer anderen philosophischen Schule Indiens, helfen uns aber bei der Identifikation dessen, was in uns selbst ein von außen auferlegtes Denkmuster ist. Laut der indischen Philosophie bleibt letztlich ein "höheres Selbst" übrig, wenn man alles Fremde losgelassen hat; dem Buddhismus (eigentlich auch eine indische Philosophie) zufolge: nichts. So oder so sind wir aber nicht dieses Selbstbild, mit dem wir uns permanent identifizieren, und auch nicht unsere Gefühle und Gedanken, die permanent kommen und gehen.

Die Identifikation mit dem (gesellschaftlich geprägten) Selbstbild hilft uns vor allem dabei, als Person in einer Gesellschaft zu funktionieren. Sie erzeugt aber auch Leiden, wo sie uns Normen auferlegt, denen wir nicht genügen: Ich muss erfolgreich sein; ich muss gut aussehen; ich muss viele Sexualpartner haben; ich muss eine gute Mutter/ein guter Vater sein; ich muss am Arbeitsplatz funktionieren; ich muss viel Sport treiben, um gesund zu bleiben.

Unter so viel Müssen bricht der Eine oder die Andere zusammen und damit sind wir wieder beim Anfang dieses Buches: beim stetigen Anstieg von Angststörungen, Burn-outs oder Depressionen in unserer Zeit. Daher finde ich es auch schade, wenn ein Buch wie John P. Streleckys "Café am Rande der Welt" seit Jahren die Bestsellerliste anführt. Denn dieser Autor verkauft uns (im wortwörtlichen Sinne) vor allem eine altamerikanische Du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-nur-willst-Ideologie, allenfalls garniert mit ein paar weisen Anekdoten, die sich Weltreisende so erzählen, ohne deren fremden Ursprung auch nur zu erwähnen (Ein Besuch im "Café am Rande der Welt").

Wir Menschen müssen aber erst einmal: nichts. Unsere Körper leben von ganz alleine, die Zellen teilen sich, die Knochen und Gewebe halten das alles zusammen und mit etwas Nahrung geht das erst einmal so weiter. Der ganze Rest im Menschenleben sind Dinge, die uns durch Gesellschaft und Kultur prägen. Und so muss auch niemand die Frage nach der Identität in der radikalen Weise beantworten, wie es die Gedanken aus der indischen Philosophie nahelegen.

Sinngebung und Spiritualität können erst einmal nur bedeuten, sich die Frage zu stellen, was man denn wirklich will. Und welche Denk- und Verhaltensmuster einen vielleicht immer wieder in Situationen bringen, die man gerade nicht will, wie es auch Paul Verhaeghe im Gespräch hier im eBook erwähnte.

Gesundheit und Sinngebung

Die innovative Forschung der niederländischen Gesundheitswissenschaftlerin Machteld Huber hat gezeigt, dass die meisten Menschen im medizinischen Bereich nicht nur Ansprüche an die körperliche und psychische Gesundheit haben. Vielmehr gehören für sie soziale Partizipation (etwa dazu zu gehören, Unterstützung von Anderen), Lebensqualität (etwa Balance und Sicherheit) und Sinngebung (etwa sinnvoll leben, sich weiterentwickeln) essenziell zur Gesundheit. Das ist für manche allerdings schon ein großer Schritt - und gerade Ärzte und Entscheidungsträger denken laut Hubers Forschung noch primär an das körperliche Funktionieren.

Dabei warnte bereits der österreichisch-amerikanische Philosoph und Theologe Ivan Illich (1926-2002) davor, das biomedizinische Paradigma der Medizin bringe den Menschen nicht nur Fortschritte, sondern mache sie auch abhängig ("Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens", 1981). So würden Patienten kulturell tradierte Fähigkeiten verlernen, selbst mit Rückschlägen und Leid umzugehen. Im Christentum mögen das beispielsweise die Identifikation mit dem Leidensweg Christi und die Ideen der Vergebung sowie Erlösung gewesen sein.

Im 21. Jahrhundert stellt die gerade erwähnte Huber dann fest, dass eine rein biologische Medizin zu kurz greift und insbesondere chronisch Kranken, von denen es heute schon immer mehr gibt und in Zukunft noch viel mehr geben wird, kaum nutzt. Wenn Heilung keine Option (mehr) ist, dann ist das Lernen, mit seinen Schwierigkeiten umgehen zu können, von entscheidender Bedeutung. Ludger Tebartz van Elst äußert im Interview in diesem eBook dann seine Befürchtung, den Menschen gehe die Robustheit verloren. Stattdessen rennt man halt zum Arzt/Psychiater oder Psychologen. Und der gibt einem dann eine Diagnose, ein paar Pillen und Ratschläge.

Das Leben ist manchmal wie ein Drahtseiltanz. Man muss nicht immer nur vorgetretenen Bahnen folgen. Oft hat man mehr Möglichkeiten, als man denkt. Bild: Mit freundlicher Genehmigung der Groninger Künstlerin Elise Madderom

Auch ohne das Wort "Spiritualität" in den Mund zu nehmen, sollte klar geworden sein, dass Gesundheit mehr ist als nur ein funktionierender Körper; und der Lebenssinn mehr als nur Erfolg. Sinngebung beginnt mit der Frage, wer man eigentlich ist und was man wirklich will. Spiritualität fügt dann noch eine Dimension des größeren Ganzen hinzu und hilft dabei, wie beim Häuten einer Zwiebel unwesentliche Schichten zu entfernen. Die indische Philosophie ist nicht der einzige, wenn auch ein heute immer populärer werdender Weg. Ich für meinen Teil breche schon morgen wieder zu indischen Städten wie Delhi, Varanasi und Rishikesh auf, so wie inzwischen jährlich rund elf Millionen andere Menschen auch.