Warum Frauenquoten nicht genug sind

Während Frauenquoten in immer mehr Bereichen Einzug halten, sind Arbeiterkinder in der Elite kaum noch vertreten. Wird es Zeit für eine Arbeiterquote?

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Genauso wie der freie Markt die Wirtschaft nicht optimal und gerecht regeln kann, kann auch die Gleichberechtigung nicht unmittelbar für eine gesellschaftliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau sorgen. Nur, weil Frauen Vorstandsmitglieder sein dürfen, heißt das noch lange nicht, dass sie es tatsächlich werden. Unter anderem liegt das an tradierten Rollenbildern, vor allem aber an Vorbildern. Der kleine Tim, der Manager werden will, hat viele davon. Seine Schwester Tina nicht.

Wie ausschlaggebend das Vorhandensein von Vorbildern für die Wahl von Studium und Beruf sein kann, ist durch zahlreiche Studien belegt. An ihnen hängt auch das Hauptargument für Frauenquoten: Erst, wenn Frauen in Führungspositionen nicht mehr die Ausnahme sind (und dann auch mal Mutti genannt werden), werden sich viele weitere junge Frauen an den Verantwortungsträgerinnen orientieren und sich eine ähnliche Laufbahn zutrauen.

Dann wird es auch die gesetzlich vorgeschriebenen Quoten nicht mehr brauchen - ähnlich einer Therapie, die abgesetzt wird, sobald der Patient wieder gesund ist. In diesem Fall ist der Patient eine Gesellschaft, die durch ein jahrhundertealtes Patriarchat geprägt ist.

Die Debatte um Frauenquoten ist aber nicht nur ein idealistischer, sondern auch ein handfester ökonomischer Diskurs. Wenn Frauenquoten dazu führen, dass sich in der Zukunft mehr Frauen für Führungspositionen interessieren, dann werden dadurch unzählige weibliche Talente gerettet und für den Markt brauchbar gemacht. Die erhöhte Konkurrenz um die Spitzenposten wäre für die Wirtschaft ein Segen, bedeutet sie doch, dass aus einer größeren Auswahl der Bestqualifizierten noch einmal die Besten selektiert werden können. Konkrete Belege dafür liefert das Credit Suisse Research Institute anhand einer Zusammenführung verschiedener Studien: Demnach gibt es eine signifikante Korrelation zwischen einem überdurchschnittlichen Frauenanteil an der Firmenspitze und einer guten Entwicklung des Aktienkurses. Umgekehrt schneiden Unternehmen mit einem unterdurchschnittlichen Frauenanteil schlechter ab.

Wenn also jetzt Familienministerin Giffey einen Gesetzesentwurf vorlegt, der in jedem Vorstand mindestens eine Frau vorsieht und wenn der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der Dax-Konzerne im vergangenen Jahr erstmals die 30-Prozent-Marke überschritten hat, dann sind das in jeder Hinsicht Schritte in die richtige Richtung. Enthusiasmus wäre aber fehl am Platz, denn auch die beste Therapie kann Nebenwirkungen haben. So begrüßenswert Frauenquoten auch sind, so wichtig ist gleichzeitig die Frage: Welchen sozialen Hintergrund haben die Frauen, die durch Frauenquoten an die Spitze kommen?

Bürgertöchter statt Arbeitersöhnen?

Frauenquoten bedeuten nichts anderes als: Mehr Frauen in der Elite. In der Theorie sollte die Elite eine "Auswahl der Besten" sein, in der Praxis ist sie aber eine Auswahl der Besten und ihrer Kinder und Kindeskinder. Nach Erkenntnissen des Elitenforschers Michael Hartmann trifft dies vor allem auf Frauen zu, die heute in Spitzenpositionen kommen - auch in Rahmen von Frauenquoten.

Ein prominentes Beispiel ist Ursula von der Leyen, die erstmals in der Geschichte der EU eine Kommission mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis präsidiert (14 Kommissare, 13 Kommissarinnen). Von der Leyen, Spross einer Familie mit langer großbürgerlicher Tradition und Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen Ernst Albrecht, besuchte die Europäische Schule in Uccle. Europäische Schulen sind jene Bildungsinstitutionen, die mit der Absicht gegründet wurden, Kindern von Eltern, die in europäischen Institutionen arbeiten, einen Unterricht in der eigenen Muttersprache zu gewährleisten. Die Laufbahn, die Von der Leyen letztendlich ins Amt der EU-Kommissionspräsidentin führte, begann also gewissermaßen bereits in ihrer Kindheit.

In der obersten politischen Führungsriege ist sie damit freilich nicht allein. Eigentlich sollte der Zugang zu Parteien und politischer Partizipation offener sein als zu Unternehmen, aber auch in der Politik geht ohne Studium heute nicht mehr viel. Das hat Folgen für die Rekrutierung der politischen Eliten. Für sein Buch "Die Abgehobenen - Wie die Eliten die Demokratie gefährden" recherchierte Hartmann, dass bis Mitte der 60er-Jahre nur ein Drittel der deutschen Minister aus dem Bürgertum - also den oberen drei bis fünf Prozent der Bevölkerung - stammte. Ab Ende der 90er-Jahre vollzog sich dann ein radikaler Wechsel, die Verhältnisse kehrten sich um. Der Anteil der Bürgerkinder in der Regierung erhöhte sich auf zwei Drittel, die Arbeiterkinder sind im Merkel-Kabinett heute nur noch zwei: Horst Seehofer und Peter Altmaier.

Damit folgte Deutschland einem Trend, den die USA und Großbritannien schon in den 1980er-Jahren mit Thatcher und Reagan vorwegnahmen. Beim Wechsel von Callaghan zu Thatcher verschwanden sämtliche Arbeiterkinder aus dem Kabinett, während sich der Anteil der Minister aus Familien der Upper Class und Upper Middle Class von einem Drittel auf vier Fünftel erhöhte. Ganz ähnlich verlief der Wechsel von Carter zu Reagan, mit einer Steigerung der Bürgerkinder von einem Viertel auf drei Viertel. Dass dieser Wechsel ausgerechnet mit dem ersten großen Akt sogenannter neoliberaler Wirtschaftspolitik einhergeht, ist - wie noch gezeigt werden soll - kein Zufall.

Frauenquoten sind an dieser Entwicklung keinesfalls schuld. In der Form, wie sie aktuell praktiziert werden, verschärfen sie aber nach Einschätzung Hartmanns die soziale Selektion noch weiter und sorgen dafür, dass hauptsächlich jene Frauen aufsteigen, deren männliche Familienmitglieder schon seit jeher ganz oben waren. In anderen Worten: Bürgertöchter verdrängen Arbeitersöhne.

Regieren für die Upper Class

In der freien Wirtschaft mag die soziale Herkunft der Entscheidungsträger nicht allzu relevant sein, in der Politik ist sie aber entscheidend. Der Politologe Nicholas Carnes hat das Abstimmungsverhalten der Kongress-Abgeordneten in den USA untersucht und kam zur Einsicht, dass die Klassenzugehörigkeit beim Abstimmungsverhalten in sozialen und ökonomischen Fragen ein entscheidender Faktor ist. Die Ergebnisse seiner Studien fasst Carnes folgendermaßen zusammen: "Eine Regierung durch die Upper Class befördert Regieren zugunsten der Upper Class".

Eine ähnliche Studie, die dann unter dem Titel "Soziale Ungleichheit: Kein Thema für die Eliten?" publiziert wurde, führte Hartmann in Deutschland durch und kam zum gleichen Ergebnis wie Carnes in den USA: Die soziale Herkunft der Politiker beeinflusst ihre Haltung gegenüber Steuer- und Verteilungsfragen auf maßgebliche Weise. So beurteilen die Arbeiterkinder unter den befragten Eliteangehörigen die sozialen Unterschiede in Deutschland mit einer klaren Mehrheit von zwei zu eins als ungerecht, während die Großbürgerkinder mit einer nahezu gleichen Mehrheit der entgegengesetzten Meinung sind.

Wie sieht es mit Steuererhöhungen auf hohe Einkommen aus? Die befürworten fünf von sieben Arbeiterkindern, aber nur zwei von elf Großbürgerkinder. Noch klarer fällt die Uneinigkeit bei den befragten Spitzenpolitikern aus: Von denen, die in Arbeiterfamilien hineingeboren wurden, ist niemand gegen die Steuererhöhungen, von denen, die in großbürgerliche Familien hineingeboren wurden, ist niemand dafür.

Die soziale Rekrutierung der politischen Eliten ist also einer der ausschlaggebenden Faktoren für die neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Das ging nicht nur mit einer Deregulierung vor allem auf den Finanzmärkten einher, sondern auch mit steuerlichen Entlastungen für Spitzenverdiener. Unter Gerhard Schröder wurde der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt, die Körperschaftssteuer von 40 auf 25 Prozent.

Die darauffolgenden Jahre und Regierungen führten diese Arbeit weiter, so wurden etwa Vermögenserträge während der ersten großen Koalition unter Angela Merkel einer einheitlichen Pauschalsteuer von 25 Prozent unterzogen, wodurch alle, deren individueller Steuersatz zuvor höher lag, zum Teil enorm profitierten. Zudem wurde die Dividendenpolitik liberalisiert, wodurch die Gesamtsumme der von DAX-Unternehmen ausgeschütteten Dividenden von zehn Milliarden im Jahr 2002 auf 36 Milliarden im Jahr 2018 stieg. Gleichzeitig wurde die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht, wodurch die Kaufkraft der unteren Schichten weiter geschmälert wurde. Steigende Wohnungspreise und Mieten tun das Übrige: Von 1993 bis 2013 sank der Anteil der Wohnkosten am Haushaltseinkommen beim oberen Fünftel der Einkommensbezieher von 16 auf 14 Prozent, während der Anteil beim unteren Viertel von 27 auf 39 Prozent (!) stieg.

Solche Maßnahmen (und fehlende Maßnahmen, etwa gegen hohe Mietpreise) trugen maßgeblich dazu bei, dass das Einkommen des reichsten Zehntels der Gesellschaft von 1999 bis 2015 um 22 Prozent zulegte, jenes der untersten zwei Zehntel aber um sechs beziehungsweise sogar um mehr als 14 Prozent sank, wie ein Befund des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt.

Arm und Reich driften in Deutschland weiter auseinander, und das auch wegen der unproportionalen Unterrepräsentiertheit von Arbeiterkindern in der Politik. Diese Entwicklung erhöht soziale Spannungen und treibt viele ehemalige SPD-Wähler aus der Arbeiterschicht, die sich von ihrer Partei nicht mehr vertreten, in die Fänge der extremen Rechten. Schließlich sind es die enttäuschten Arbeiter und nicht die traditionell konservativen Wähler, die den Erfolg der Rechten heute entscheiden. Ohne die vielen ehemaligen Demokraten aus dem Rust Belt hätte es vermutlich auch Trump nicht ins Weiße Haus geschafft.

Es wäre schade, wenn Frauenquoten - an sich eine gute Sache - diesem Trend weiteren Vorschub leisten würden, indem sie den sozialen Aufstieg von Arbeiterkindern noch zusätzlich einschränken und fast ausschließlich jenen Frauen zugutekommen, die auf einen Stammbaum illustrer männlicher Vorfahren blicken können.

Dieser Beitrag versteht sich deshalb als Anstoß zu einer Diskussion über Arbeiterquoten - als Ergänzung zu den Frauenquoten. Schließlich kommt das eine auch dem anderen zugute. Man stelle sich nämlich vor, was passiert, wenn die chronische Unterrepräsentiertheit der Arbeiterschicht der extremen Rechten zu noch größeren Erfolgen und womöglich zu einer langen Regierungszeit verhelfen sollte: Mit Frauenquoten und der gesellschaftlichen Gleichstellung zwischen Frauen und Männern wäre es dann auch nicht mehr weit her.