Nordsyrien: Ende der türkischen Besatzung gefordert

Türkische Militärfahrzeuge an der Grenze zu Syrien, Archivfoto (Januar 2018): VOA/gemeinfrei

Kommentar: Ein Abzug der Türkei würde ebenso zur Befriedung beitragen wie Verhandlungen mit der syrischen Regierung auf Augenhöhe

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit nunmehr zwei Jahren hat die Türkei in Nordsyrien durch mehrere Militäroperationen Gebiete besetzt. Was angeblich anfangs dem Kampf gegen den IS dienen sollte, entpuppte sich als "schleichender Genozid" an den Kurden, Eziden (auch: Jesiden) und Christen in der Region und als Kampf gegen Autonomiebestrebungen der multiethnischen Bevölkerung Nordsyriens.

Letztlich hat die türkische Besatzungspolitik zu noch mehr Leid und noch mehr Flüchtlingen beigetragen. Zum zweiten Jahrestag der türkischen Besatzung des nordwestsyrischen Kantons Afrin am 18. März 2018 wandte sich Ibrahim Murad, der Deutschland-Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und machte auf die katastrophale Situation der 500.000 Vertriebenen aus Afrin aufmerksam:

Von diesen (Vertriebenen, Anm. d. Verf.) lebt ein Großteil unter harten, unmenschlichen Bedingungen in mehreren Flüchtlingslagern in der Region Shahba. Diese werden kontinuierlich durch den türkischen Staat und von ihm unterstützten Terrorgruppen bombardiert. Dutzende unbewaffneter Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen fielen den Angriffen bereits zum Opfer.

Systematische Menschen- und Völkerrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten sind an der Tagesordnung: Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Tötungen, Vertreibungen, Plünderungen mit Antiquitätendiebstahl und die Zerstörung eines unwiederbringlichen kulturellen Erbes werden im Sinne einer Türkisierungspolitik durchgeführt. Ziel ist eine nachhaltige demografische Veränderung und die Festigung der Vorherrschaft des türkischen Staates auf besetztem syrischem Territorium…

Ibrahim Murad

Murad fordert in dem Brief die Bundesregierung auf, sich für ein Ende der Besatzung Nordsyriens durch die Türkei einzusetzen. Stattdessen solle sich Berlin bei den Vereinten Nationen für eine internationale Sicherheitszone, eine UN-Schutzzone, einsetzen.

UN-Schutzzone gefordert

Eine von UN-Blauhelmen kontrollierte Schutzzone würde die Bevölkerung einerseits vor den ständigen Bombardierungen aus der Türkei schützen und andererseits vor der Regierung Assad, die nach wie vor den Plan verfolgt, sämtliche demokratischen Strukturen zugunsten seines zentralistischen, autoritären Systems zu zerschlagen.

Die Flüchtlinge aus den türkisch besetzten Gebieten Afrin, Ras al-Ain (kurdisch: Sere Kaniye) und Tell Abyad (Gire Spi) könnten wieder in ihre Häuser zurückkehren - vorausgesetzt, es würde der Abzug der von der Türkei dort angesiedelten Islamisten, arabischen und turkmenischen Syrer aus der Türkei mit verhandelt.

Damit würde man einer demographischen Veränderung entgegenwirken. Immer wieder in der Geschichte des Nahen Ostens wurde versucht, ethnische Minderheiten durch Vertreibung, Enteignung und Zwangsumsiedlung zu vernichten oder zu zwangsassimilieren. Dieses Schicksal teilen in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien vor allem die Kurden, Eziden und Armenier.

Die Geschichte lehrt uns, dass dies immer wieder in Krieg, Vernichtung und Vertreibung endet. In der heutigen Zeit ist die Türkei im Umgang mit der kurdischen Bevölkerung im eigenen Land ein unrühmliches Beispiel dafür - das sich in Nordsyrien in den türkisch besetzten Gebieten fortsetzt.

"Völkerrechtswidrige Besetzungen mit all ihren Konsequenzen für die Bevölkerung machen das Erreichen einer friedlichen Lösung in Syrien nahezu unmöglich", erläutert Murad in dem Brief an die Kanzlerin. Da die Bundesregierung über gute politische und ökonomische Beziehungen zu den verschiedenen Akteuren verfüge, appelliert der Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien an die Kanzlerin und die Bundesregierung,

• "sich für eine Beendigung der (türkischen, Anm. d. Verf.) Besetzung im gesamten Norden Syriens einzusetzen,

• die Bemühungen zur Errichtung eine Sicherheitszone unter Aufsicht der Vereinten Nationen aktiv zu unterstützen,

• die Bestrebungen zur Etablierung demokratischer, föderaler Strukturen in Syrien aktiv zu fördern und

• gemeinsam mit allen Teilen der syrischen Gesellschaft eine neue Verfassung auszuarbeiten, die insbesondere die Minderheitenrechte garantiert."

Die beiden ersten Punkte würden Nordsyrien erst einmal eine Ruhepause verschaffen, die auch den Flüchtlingen aus der nordwestlichen Provinz Idlib zugutekommen könnte. Die Dschihadisten hätten durch den Abzug der Türkei und der Präsenz von Blauhelmen keine Grundlage mehr, die angestammte Bevölkerung zu vertreiben und müssten kapitulieren.

Eine Realisierung einer UN-Schutzzone ist jedoch noch in weiter Ferne. Alle Vorstöße in diese Richtung wurden bisher abgeschmettert und an Russlands Veto würde diese Initiative letztlich scheitern.

Die letzten beiden Punkte sind nur realistisch umsetzbar, wenn die Bundesregierung als Vorreiterin anerkennt, dass der angestrebte Regime change in Syrien gescheitert ist und der Autokrat Assad genauso wie der Autokrat Erdogan als schwieriger Verhandlungspartner anerkannt werden.

Dabei muss es darum gehen, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, mit klaren Vorgaben an Assad im Sinne der Etablierung eines demokratischen Staates, der Minderheitenrechte nicht auf Folklore reduziert und den Föderalismus unterstützt. Mit Assad müsste verhandelt werden, dass seine auf den Grundlagen seines militaristisch-autoritären Vaters basierenden Geheimdienste reformiert und demokratisiert werden.

Es müsste ausgehandelt werden, dass sowohl Erdogan als auch Assad anerkennen, dass sie einem Vielvölkerstaat vorstehen, an dem alle Ethnien gleichberechtigt, ohne Assimilierungszwang partizipieren können. Wenn die westliche Welt ein ehrliches Interesse an einem Frieden im Nahen Osten zumindest an einer Front haben sollte, dann müssten sie endlich Vertreter der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien mit an den Verhandlungstisch zur Syrienfrage holen.

Bislang wurde immer über die Menschen dieser Region gesprochen, anstatt mit ihnen. Es muss doch irgendwie möglich sein, ein Volk von über 30 Millionen, das mittlerweile mehrheitlich auch keinen eigenen Staat mehr fordert, sondern "nur" noch banale Minderheitenrechte in den jeweiligen Staaten, mit an den Verhandlungstisch zu holen - auch gegen Erdogan.

Und es müsste doch im Sinne der westlichen Welt sein, wenn sich in der von autoritär, feudalistisch oder islamistischen Regierungen geprägten Region eine demokratische Alternative entwickelt.

Neue Finanzspritze für Erdogan aus Europa

Anfang März fand eine Videokonferenz in Berlin mit Bundeskanzlerin Merkel, dem britischen Premierminister Boris Johnson und Frankreichs Präsidenten Emanuel Macron und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan statt. Thema war die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei.

Aber, anstatt Erdogan wegen seiner Erpressung mittels Flüchtlingen an der griechischen Grenze die Provokationen gegenüber Griechenland oder den völkerrechtswidrigen Besatzungen in Syrien gehörig die Leviten zu lesen, bekommt er, was er will: weitere Millionen.

Der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Kamal Sido, kritisierte die weitere Finanzierung des "System Erdogan":

Erdogans Vorgehen in Nordsyrien und die humanitäre Katastrophe, die er dort mit verursacht, haben die europäischen Staaten wieder nicht verurteilt…Sein offensichtlicher Versuch, die Not der Geflüchteten zu missbrauchen und Europa zu erpressen, ist geglückt: Europa zahlt und schweigt.

Kamal Sido

Europas Politik schaffe es immer noch nicht, die Verbrechen der Türkei im Norden Syriens klar zu benennen. Daher hat Erdogan weiterhin keinen Grund, sie zu beenden, so Sido.

Und wenn er das nächste Mal Geld braucht, weiß er jetzt genau, was er tun muss, um es zu bekommen.

Kamal Sido

Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete, alle Seiten hätten sich zu dem Flüchtlingspakt mit Ankara bekannt. Aber kündigte Erdogan nicht den sogenannten "Flüchtlingsdeal" auf, indem er kundtat: "Wir haben die (Grenz-)Tore geöffnet"?

Tausende Flüchtlinge, überwiegend aus Afghanistan brachte er damit in eine aussichtslose Lage im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland (Wie der Kampf gegen Corona das Leid vieler Flüchtlinge verschärft).

Der Spiegel berichtete letzte Woche, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe Hinweise, dass die türkische Regierung das Flüchtlingsdrama an der türkisch-griechischen Grenze selbst inszeniert habe: "Demnach hätten türkische Behörden Flüchtlinge in Busse gezwungen und sie ins Grenzgebiet gefahren. Unter die Menschenmenge sollen sich auch staatliche Kräfte gemischt haben, die die Krawalle an den Zäunen befeuert hätten, so die Erkenntnisse des deutschen Auslandsgeheimdienstes."

Wegen der Corona-Krise haben nun die türkischen Behörden das Lager aufgelöst, die Zelte und provisorischen Unterkünfte niedergebrannt. Die Flüchtlinge wurden in Bussen in Containerlager bei Malatya und Osmaniye gebracht, wo sie nun wegen der Pandemie für zwei Wochen unter Quarantäne stehen. Was dann mit ihnen geschieht, ist nicht bekannt.

Es gab noch mehr auf dem Gabentisch für Erdogan: Man dürfe auch die Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei "nicht aus den Augen zu verlieren", sagte Merkel. Der französische Präsident Macron unterstützte zwar die Aufstockung der humanitären Hilfe für Zivilisten, sein Büro in Paris teilte aber auch mit, Erdogan sei in Bezug auf die Flüchtlingskrise sowie die Nato- und EU zu einer "Reihe von Klarstellungen" aufgefordert worden.

Details wurden nicht genannt.