"Du bringst uns Corona"

Symbolbild: John Bussell/unsplash

Mit dem Einreiseverbot für Berliner ins Umland kommen Denunziationen und wechselseitige Feindseligkeit - Ein Kommentar

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Mecklenburg-Vorpommern und der Landkreis Ostprignitz-Ruppin (OPR) in Brandenburg machen ihre Grenzen dicht. Vor allem Berliner Rentner und Familien mit Wochenendhäusern und Gartenlauben sind davon betroffen. In Zeiten von Corona baut sich eine neue Empörungsfront im Osten Deutschlands auf: gegen Berliner, die im Berliner Umland einen Zweitwohnsitz haben.

"Herzlich unwillkommen" ist der Titel eines Artikels des Berliner Tagesspiegel vom 2. April, der über eine neue Verordnung in Mecklenburg-Vorpommern und OPR und seine Folgen berichtet: Ein ehemaliger Berliner Schulleiter (80) und seine Frau (73) leben seit 30 Jahren die Hälfte des Jahres in ihrem abgeschiedenen Häuschen auf einer Insel in Mecklenburg-Vorpommern. Ende März hieß es plötzlich, die Insel sei für alle, die nicht ihren Erstwohnsitz auf der Insel haben, gesperrt.

Das Rentnerpaar wollte den Gefahren und der Selbstisolation wegen des Corona -Virus lieber in ihrem zweiten Domizil entgehen als im beengten Berlin. Eine Stunde, nachdem sie die Insel erreicht hatten, sperrte die Polizei die beiden Brücken zur Insel. Eine Familie, die eine Datsche, wie die Gartenhäuser hier genannt werden, in der Umgebung von Rheinsberg im Landkreis Ostprignitz-Ruppin besitzt, hat weniger Glück.

Bevor sie ihre Sachen für den Start in den Garten packen konnte, kam das Einreiseverbot nach OPR. Die Mutter freute sich schon, ihr verordnetes Home-Office in ihre Datsche verlegen zu können, wo ihr Kind bei gutem Wetter genug Bewegungsfreiheit hat und sie in Ruhe arbeiten kann. Daraus wird nun nichts. Sie wird weiter den Kampf in der kleinen Berliner Wohnung mit ihrer Familie führen müssen, ein Zeitfenster für das Home-Office zu bekommen.

"Eine Unverschämtheit", empört sich ein Kreuzberger Vater im Interview mit Telepolis. "Seit 20 Jahren fahren wir regelmäßig in unseren Garten. Unser Sohn ist hier groß geworden. Wir haben hier Freunde, zahlen Zweitwohnungssteuer und dürfen nicht zu unserem eigenen Grund und Boden. Wenn wir jetzt im Gegenzug den Brandenburgern ebenfalls verbieten würden, nach Berlin zu kommen, wäre das Geschrei groß."

"Wir sind doch keine Touristen"

Ein Berliner Rentnerehepaar schimpft: "Der Bürgermeister (Freie Wähler) von Rheinsberg vermischt Äpfel mit Birnen. Wir sind doch keine Touristen, wenn wir in unseren Garten fahren." Auch der Kreuzberger Vater meint: "Wir Berliner gehören doch seit 20 Jahren hier zur Bevölkerung. Wir kennen uns und wir unterstützen uns als Gartenfreunde."

Nach der Wende kauften sich viele Berliner vor allem im Landkreis Ostprignitz-Ruppin Wochenendhäuser oder Datschen in Gartenkolonien. Besonders im Umkreis von Rheinsberg, an der Mecklenburgischen Seenplatte, waren die Gartenhäuschen bei den Berlinern sehr beliebt.

Vor allem Familien mit Kindern wollten ihren Kindern einen Ausgleich zu den Berliner Häuserschluchten der Innenstadt und ein günstiges Feriendomizil bieten, denn nicht jeder kann und konnte sich Fernreisen leisten.

Auch viele Berliner aus dem ehemaligen Ostberlin haben in der Region seit Jahrzehnten eine Datsche, die nun zum Teil von den Enkeln bewirtschaftet werden. Für viele startete die Gartensaison an Ostern bzw. in den Osterferien. Dann ging es raus in den Garten zum Ostereier suchen und wenn möglich zum "anbaden".

Nun ist alles anders. Jetzt sollen wegen der Pandemie die Berliner zu Hause bleiben - egal ob die Eltern und Kinder nach mittlerweile zwei Wochen Selbstisolation in ihrer kleinen Wohnung am Rad drehen. Und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Dabei ist es im Prinzip unerheblich, wo man zu Hause bleibt. Selbstisolation im Garten mit Auslauf für die Kinder wäre allerdings wesentlich gesünder und mag manche häusliche Gewaltsituation aufgrund der beengten Wohnverhältnisse verhindern.

Per Verordnung zu Touristen erklärt

Den Landrat von OPR und den Rheinsberger Bürgermeister Schochow interessiert das wenig. Zwar kassieren die Landkreise von den Berlinern üppige Zweitwohnungssteuern, die Supermärkte und Geschäfte verdienen an den regelmäßig anreisenden Berlinern auch nicht schlecht und auch Kulturschaffende profitieren von den Teilzeit-Bewohnern. Der Landrat von OPR, Ralf Reinhardt (SPD), erklärt sie jedoch per Verordnung einfach zu Touristen:

(...) 1. Die Anreise in den Landkreis Ostprignitz-Ruppin, auch für nur vorübergehende Kurzaufenthalte z. B. am Wochenende oder an einzelnen Tagen, zur Nutzung einer im Landkreis gelegenen Nebenwohnung (sogenannte Zweitwohnung) im Sinne des Bundesmeldegesetzes wie insbesondere eines Wochenendhauses, einer Datsche, eines Bungalows, eines Gehöfts, eines Hauses, einer Ferienwohnung... sind untersagt, wenn diese aus touristischem Anlass erfolgen…

Allgemeinverfügung, Landkreis Ostprignitz-Ruppin

Begründet wird die Maßnahme mit unzureichender Ausstattung der Krankenhäuser in der Region für Corona-Patienten. "Das ist völliger Quatsch", meint die Berliner Mutter im Gespräch. "Wenn einer von uns Symptome zeigt, dann packe ich doch die Familie ins Auto und fahre zurück nach Berlin, wo ich mich auskenne und weiß, an wen ich mich wenden muss im Ernstfall."

Das andere Virus: "Pandemie des Rassismus"

Mit dem Einreiseverbot für Berliner grassiert allerdings ein ganz anderes Virus als Sars-CoV-2 - und es ist nicht harmlos: Plötzlich werden die Berliner Gartennachbarn mit Argwohn betrachtet. Die Einwohner der Region würden durch diese Verordnung bestärkt, sich zu Hütern der Corona-Quarantäne aufzuschwingen, schreibt der Tagesspiegel.

Betroffene berichten von einer Atmosphäre der Einschüchterung und offener Feindseligkeit: "Du bringst uns Corona", war auf einen Zettel geschrieben, der bei Otterndorf - an der Elbmündung gelegen - an der Windschutzscheibe eines ortsfremden Autos klebte. Auf Usedom sollen Autos mit Nummernschildern vom Festland mit Steinen beworfen worden sein.

Ein Berliner, der mit seiner Frau seit zehn Jahren ein Domizil in einem kleinen Dorf im Landkreis OPR besitzt, dachte, sie seien gut integriert im Dorf. Sie hätten sich immer in die Gemeinschaft des Dorfes eingebracht. Nun würden sie sich wie Aussätzige fühlen. Ihr Auto mit Berliner Kennzeichen hätten sie versteckt, das Tor zur Einfahrt geschlossen, die Vorhänge zugezogen, berichten sie dem Tagesspiegel.

Der Ortsvorsteher des Dorfes, mit dem der Mann "per Du" war und den er zu Rate zog, zeigte wenig Verständnis für die Sorgen des Ehepaars: "In so einer Situation gibt es nur Schwarz oder Weiß", gab er ihm mit auf den Weg.

"Jetzt stehen wir vor einer Pandemie des Rassismus", sagt der Kreuzberger Vater. In der Region habe die AfD eine große Wählerschaft, die sehr rassistisch gegen Fremde eingestellt sei. Das hätte sich bisher im Verhalten gegenüber Migranten und Flüchtlingen gezeigt. "Viele Einheimische haben eine sehr konservative bis rechtsnationale Einstellung. Das war schon zu DDR-Zeiten so", meint er. Nun würden sie einem "Rassismus" freien Lauf lassen und Verordnungen zur Corona-Krise benutzen, um auch gegen "die Wessis" vorzugehen.

Viele Ex-DDR Bürger fühlen sich noch immer gegenüber den Westdeutschen benachteiligt. Das hat zum Teil berechtigte Gründe. Ihnen wurden "blühende Landschaften" versprochen, stattdessen entstanden "Wüsten und Arbeitslosigkeit". Daher auch die vielen Wahlstimmen für die AfD. Deren rassistische Propaganda führte zu einem ausländerfeindlichen Klima in der Region und nun wird die Angst vor Corona benutzt, um alte Gräben zwischen Ost und West wieder aufzuwerfen.

Eine solche Spaltung der Gesellschaft in der Region lasse sich nach der Pandemie nicht mehr zurückdrehen. Wenn die Menschen Argwohn und Denunziation erfahren haben, hinterlässt das ein schlechtes Klima. "Das wieder zu kitten ist sehr schwer", so der Berliner Vater.

Eine langsam zusammenwachsende Gesellschaft droht nun wieder auseinanderzubrechen. Egoismus, Aggression und Denunziation scheinen sich durch eine solche Verordnung wieder Bahn zu brechen.

Ein gefährliches Spiel

Landrat Ralf Reinhardt scheint nur die Angst vor Corona getrieben zu haben. Den Tourismus zu begrenzen, ist auf jeden Fall der richtige Weg in Zeiten von Corona. Auf den ersten Blick scheint das Einreiseverbot eine vernünftige Maßnahme zu sein. Bei genauerer Betrachtung ist das aber ein gefährliches Spiel und treibt einen Spaltpilz in die Einwohnerschaft der Region.

Dass er die Besitzer von Wochenendendhäusern, Gehöften oder Datschen zu Touristen erklärt, ist ein politischer Fehler, denn sie sind längst ein Teil der Bevölkerung in Ostprignitz-Ruppin. Ein Armutszeugnis ist auch, dass er zugeben musste, dass seine Maßnahme noch nicht einmal aufgrund valider Zahlengrundlagen angeordnet wurde.

"Die Ordnungsämter hätten viele fremde Autokennzeichen beobachtet und volle Ferienhaussiedlungen in Rheinsberg und Linow gemeldet ... Ob es sich dabei um Eigentümer oder Urlauber handle, sei nicht ermittelbar gewesen. Man wisse im Amt nicht mal, wie viele Zweitwohnsitzler es überhaupt im Kreis gebe", berichtete der Landrat dem Tagesspiegel.

Wie kann das sein, dass der Landkreis höhere Summen an Zweitwohnungssteuer kassiert und keinen Überblick darüber hat, wie viele Personen Zweitwohnungssteuer zahlen? Das müsste doch ganz einfach über das Amt, das die Steuerbescheide ausstellt, zu erfahren sein.

Vielleicht rudert der Landrat noch zurück, denn es gibt auch Kritik aus den eigenen Reihen seiner Partei. Und es häufen sich die Klagen und Beschwerden. In einem ersten Verfahren folgte das Potsdamer Verwaltungsgericht der Klage von zwei Berlinern mit Zweitwohnsitz in Ost-Prignitz, dass es wegen der "bevorstehenden Anreise von Zweitwohnungsnutzern" nicht zu einer "Kollabierung des Gesundheitssystems des Landkreises" komme.

Der Landrat hat umgehend Berufung eingelegt. Man darf gespannt sein, wie weit die Einschränkung der persönlichen Freiheit noch gehen darf.