Türkei: Lebensgefahr für politische Gefangene

Coronakrise in der Türkei: Leere Straße in Bergama, Izmir. Bild (29. März 2020): Maurice Flesier/CC BY-SA 4.0

Die türkische Regierung will wegen der Corona-Krise zehntausende Häftlinge entlassen - politische Gefangene sollen davon ausgenommen bleiben

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Nachdem die türkischen Behörden im Laufe der letzten Jahre so ziemlich jeden, der offen Kritik an der Regierung geübt hat, angeklagt oder ins Exil getrieben haben, sind die Gefängnisse des Landes voll. Übervoll. Mit aktuell rund 300.000 Inhaftierten sind die bestehenden Haftanstalten um mehr als zwanzig Prozent überbelegt. Neue Gefängnisse werden gebaut. Doch nun könnte Platz geschaffen werden in den Zellen - Grund dafür ist das Risiko einer Ausbreitung des Corona-Virus.

90.000 sollen freigelassen werden

Zahlreiche Länder in aller Welt entlassen in diesen Tagen Inhaftierte vorzeitig oder vorübergehend. Auch die Türkei will rund 90.000 Insassen freilassen oder vom Gefängnis in den Hausarrest schicken. Die Maßnahme soll vor allem für mit ihren Kindern gemeinsam inhaftierte Mütter sowie die Risikogruppen gelten: Menschen mit Vorerkrankungen und solche, die älter sind als sechzig Jahre.

Allerdings sollen einige Gruppen ausgenommen werden, allen voran solche, die aufgrund von Terrorurteilen inhaftiert sind. Mit anderen Worten: Politische Gefangene sollen in ihren Zellen bleiben. Unter dem Vorwurf des Terrorismus oder der Terrorunterstützung sind aktuell mehrere Zehntausend Personen eingesperrt, darunter vorwiegend Journalisten, Juristen, Menschenrechtler, aber auch Angehörige linker Parteien wie der HDP oder Mitglieder der Gülen-Bewegung, die von der Regierung für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich gemacht werden.

Auch Menschen, die zur Risikogruppe gehören, sind dabei. Etwa der Kulturmäzen Osman Kavala oder der Schriftsteller Ahmet Altan. Beide sind älter als sechzig Jahre. Beide wurden zwischenzeitlich kurz freigelassen, dann aber rasch unter neuen konstruierten Anklagen wieder verhaftet. Im Fall von Kavala wird inzwischen gegen den Richter ermittelt, der für den Freispruch verantwortlich war.

HDP-Chef Selahattin Demirtas

Ebenfalls betroffen ist der ehemalige HDP-Chef Selahattin Demirtas, der Berichten zufolge Herzprobleme haben soll, oder der Journalist Ziya Ataman, der gerade erst 31 Jahre alt ist und seit Langem an einer schweren Darmerkrankung leidet. Er ist seit fast fünf Jahren in Haft und musste in dieser Zeit mehrmals stationär behandelt werden.

Sollte es einen Corona-Ausbruch in den türkischen Gefängnissen geben, wäre das Leben dieser Personen akut gefährdet. Bislang gibt es einen dokumentierten Corona-Fall in einem Gefängnis in Ankara, der von dem HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerlioglu publik gemacht wurde - was ihm prompt ein Ermittlungsverfahren einbrachte.

Maßnahmen gegen Ausbreitung des Virus deutlich verschärft

Zwar hat die türkische Regierung in den letzten Tagen die Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Virus deutlich verschärft (etwa durch eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit sowie ein Ausgangsverbot für ältere Menschen und Risikogruppen), nachdem die Infizierten- und Todeszahlen in die Höhe geschnellt waren.

Doch Kritik an ihrem Umgang mit der Situation verbitten sich die Regierungspartei AKP und Staatspräsident Erdogan. Momentan laufen fast 400 Ermittlungsverfahren gegen Personen, die auf Facebook oder Twitter kritische Kommentare publiziert oder die offiziellen Infektionszahlen angezweifelt haben.

Amnesty International schlug deshalb schon Ende März Alarm. In einem gemeinsamen Statement mit zahlreichen anderen Menschenrechtsorganisationen wird eine umgehende Freilassung auch der politischen Gefangenen gefordert. Dabei wird neben der Überfüllung auch auf schlechte hygienische Verhältnisse in den Haftanstalten hingewiesen, in denen sich oft mehrere Personen winzige Zellen teilen müssen.

Berichten von ehemaligen Häftlingen zufolge herrsche stets ein Mangel an Seife und anderen Hygieneartikeln. "Tausende Menschen sind nur deshalb hinter Gittern, weil sie ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben. Nun sind sie zusätzlich einem unkalkulierbaren Gesundheitsrisiko ausgesetzt", heißt es in dem Statement.