"Seit Beginn der Beschränkungen haben sich stadtweit die Fallzahlen deutlich reduziert"

Bild: Polizei Berlin

Anja Dierschke, Vize-Sprecherin der Polizei Berlin, über die Sorgen ihrer Beamten, Corona-"Denunziationen" durch Mitbürger und die Frage, ob es Demos gab und den "1. Mai" geben wird

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Wie ist die Lage durch die Corona-Verordnungen im Moment in Berlin und in den letzten Tagen? Gab es erhebliche Vorfälle?

Anja Dierschke: Die Lage ist stadtweit trotz der umfassenden Maßnahmen und Beschränkungen im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung insgesamt als ruhig zu beschreiben. Aufgrund der zunehmend guten Wetterlage konnte zuletzt im gesamten Stadtgebiet, insbesondere in den Park- und Grünanlagen sowie auf Plätzen mit Wochenmärkten, ein mäßiger bis guter Zulauf durch Personen, Sporttreibenden und zumeist Zweiergruppen festgestellt werden.

Die Auslastung der Park- und Grünanlagen war dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt im Konflikt zur Eindämmungsverordnung. Die Bevölkerung hielt sich fast umfänglich an die bestehenden Regelungen zur Abstandswahrung. Auf polizeiliche Ansprachen zeigten Bevölkerung und Gewerbetreibende Verständnis und positive Reaktionen im Beachten und Befolgen der Regelungen zur Eindämmungsverordnung. Nur vereinzelt mussten aufgrund von Uneinsichtigkeit Verstöße geahndet werden.

Aber halten sich denn auch Party-Touristinnen und -Touristen zum Beispiel am vor allem nächtlichen Hotspot Warschauer Straße oder in Mitte an die Vorschriften? Oder betrachten manche das alles immer noch als großes "Vergnügen"?

Anja Dierschke: Die Gewerbetreibenden - insbesondere im Bereich des RAW-Geländes - …

… auf dem und um den herum sich unzählige Clubs, Bars, Hotels und Restaurants befinden ...

Anja Dierschke: … hielten sich von Beginn an konsequent an die angeordneten Maßnahmen. Seit der Einstellung des Betriebes in den Veranstaltungsörtlichkeiten ist der gesamte Bereich für Szene-Club-Besuchende gänzlich uninteressant. Das Personenaufkommen im Umfeld der Warschauer Straße, aber auch in den Bezirken Friedrichshain sowie in Mitte hat sich dadurch erheblich verändert, sodass die Bereiche nahezu frei von Publikum sind.

Auch für die Beamten dürfte diese Lage nicht ganz leicht sein? Mit welchen Belastungen im Einsatz oder auch generell gesundheitlich haben Ihre Kolleginnen und Kollegen zu kämpfen? Es ist eine "Großlage" von gigantischen Ausmaßen mit open end … Sind Ihre Kolleginnen und Kollegen denn gut auf diese Lage vorbereitet? Personell, materiell, technisch, von der Infrastruktur?

Anja Dierschke: Die Polizei Berlin ist insgesamt als Hauptstadtpolizei sehr erfahren im Umgang mit besonderen Einsatzlagen und ist auch für die Bewältigung der aktuellen Lage gut aufgestellt. Natürlich sind aber auch die Einsatzkräfte nicht immun gegen das Coronavirus, so dass diesbezüglich einige Beamtinnen und Beamte krankheitsbedingt ausfallen. Mit Stand vom 8. April 2020 befinden sich 211 Betroffene in Quarantäne. Diese krankheitsbedingten Ausfälle können kompensiert werden.

Besonders für Ihre jüngere Beamtinnen und Beamte ist der Umgang mit Krankheit und Tod eventuell schwerer … Wird denn psychologische Hilfestellung geboten? Oder bespricht mann und frau so etwas auch mal im Team nach Feierabend?

Anja Dierschke: Polizeibeamtinnen und -beamte werden in Ihren Einsätzen mit unterschiedlichsten, oft unschönen Dingen konfrontiert. Das Erlebte wird von jeder Einsatzkraft unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet. Bei Bedarf können sich Dienstkräfte an die Sozialbetreuung des Polizeiärztlichen Dienstes wenden, wo besonders qualifizierte Kolleginnen und Kollegen arbeiten und Hilfe anbieten, um das Erlebte zu verarbeiten. Natürlich werden sich auch Einsatzkräfte untereinander austauschen, um über das Dienstgeschehen zu sprechen und so das Erlebte im Bedarfsfall besser verarbeiten zu können.

Am vorletzten Freitag gab es ja aber laut verschiedener Medienberichte Demonstrationen in verschiedenen Stadtteilen in Hamburg und in Berlin. Wie bewertet die Berliner Polizei diese Vorkommnisse in Berlin?

Anja Dierschke: Am Freitag, den 27.03.2020, konnten aufgrund des sonnigen Wetters zum Nachmittag hin verstärkter Fußgänger- sowie Spaziergängerverkehr in Parkanlagen und auf öffentlichen Plätzen festgestellt werden. (Unangemeldete) Versammlungslagen wurden am 27.3.2020 nicht festgestellt.

"Wir kommunizieren kontinuierlich"

Aber es sind Räumungen von Häusern der linken Szene angekündigt oder in Planung (Syndikat, Katerschmiede, Liebig). Wie ist denn da der aktuelle Stand aus Sicht der operativen Kräfte?

Anja Dierschke: Zu möglicherweise noch anstehenden oder in Planung befindlichen Einsätzen äußert sich die Polizei Berlin nicht.

Laut unter anderem des rbb gab es sehr zahlreiche Anrufe von besorgten Bürgerinnen und Bürgern unter der eigentlich für ernsthafte Notrufe gedachte Nummer 110 mit Hinweisen auf Verstöße gegen die Corona-Verordnungen durch andere. Ist das so richtig?

Anja Dierschke: Derzeit können zahlreiche 110-Notrufe in Verbindung mit dem Coronavirus und den damit verbundenen Verordnungen festgestellt werden. Mitunter, aber nicht nur, werden auch Verstöße gegen die Corona-Verordnungen durch andere gemeldet. Eine genaue Zuordnung der Anrufmotivation wäre nur mit einer Recherche in jedem einzelnen Anruf möglich - eine valide statistische Aufarbeitung ist mittels automatisierter Abfrage nicht möglich.

Hätten Sie denn als erfahrene Beamtinnen und Beamte erwartet, dass es so etwas tatsächlich gibt? Generell gelten ja sowohl Alt- als auch Neu-Berliner eher als nicht so aufgeregte Bürger … Wie ist Ihre Einschätzung dazu aus professioneller Sicht? Hindert Sie das an Ihrer Arbeit?

Anja Dierschke: Die aktuelle Situation hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Arbeit der Polizei Berlin. Mit der Veröffentlichung der Eindämmungsverordnung sind viele Fragen an uns herangetragen worden, die wir schnell und verlässlich beantworten möchten.

Neben diesen Fragen erreichen uns angesichts der Verordnung auf allen Kanälen Hinweise von Bürgerinnen und Bürgern, die der Polizei eigene Wahrnehmungen mitteilen möchten, zum Beispiel zu geöffneten Restaurants oder größeren Menschenansammlungen in Parks.

Diese Hinweise werden über social media an uns herangetragen, gegenüber dem polizeilichen Notruf formuliert oder auch mittels E-Mail an unterschiedliche Dienststellen gesandt. Ganz selbstverständlich ist auch jede Kollegin und jeder Kollege im Einsatzraum ansprechbar, um diese Informationen entgegenzunehmen. Längst nicht alle Hinweise haben einen polizeilichen Einsatz zur Folge.

Für uns als Polizei Berlin unterscheidet sich die aktuelle Lage an einer wesentlichen Stelle nicht von vielen Einsatzlagen in der Vergangenheit: Wir kommunizieren kontinuierlich und auf unterschiedlichsten Kanälen mit Berlinerinnen und Berlinern sowie mit den Gästen dieser Stadt. Dieser Austausch ist für uns alltäglich und Teil unseres Selbstverständnisses.

Anja Dierschke. Bild: Polizei Berlin

"Die Polizei Berlin ist insgesamt gut aufgestellt, um mehrere (Groß)Lagen gleichzeitig zu bewältigen"

Es gibt viele sogenannte "Problembezirke" und KBOs in Berlin, die amtlich eingeordneten "kriminalitätsbelasteten Orte" - zum Beispiel der Neuköllner Hermannplatz gehörte öfter dazu - , es gab zusätzlich zum Beispiel erhebliche Vorfälle auch gegen transsexuelle/transgender Sexworker auf dem Straßenstrich an der Bülow- und Kurfürstenstraße. Auch an der Fuggerstraße im Regenbogenkiez gab es zumindest Vorfälle … Am Alexanderplatz hatte sich ja die Lage beruhigt, auch an der U8, die mittlerweile fast schon weltberühmt ist, positiv wie negativ. Verschieben sich kriminalitäts- und/oder vorfallbelastete Schwerpunkte in Berlin - und durch Corona verstärkt wie durch die jetzige Schließung von Clubs?

Anja Dierschke: Im Rahmen der fortlaufenden Betrachtung und Bewertung der Kriminalitätsentwicklung durch die Polizei Berlin konnte festgestellt werden, dass sich seit Beginn der Beschränkungen im Zusammenhang mit den Eindämmungsmaßnahmen zur Verbreitung von COVID-19 (ab 14. März 2020) stadtweit die Fallzahlen - insgesamt - deutlich reduziert haben. Dies betrifft fast alle Deliktsbereiche, von den Eigentumsdelikten bis hin zu den Delikten mit Gewaltcharakter. Entgegen diesem Trend verhalten sich bislang die Fallzahlenentwicklungen beim Keller-/Bodeneinbruch.

Darüber hinaus konnte vermutlich durch die verstärkten Kontrollmaßnahmen der Polizei im öffentlichen Raum auch ein Anstieg bei den Rauschgiftdelikten festgestellt werden.

Die Fallzahlenbelastung entwickelt sich darüber hinaus in den jeweiligen kriminalitätsbelasteten Orten unterschiedlich. Während an den touristisch sonst sehr beliebten Orten Alexanderplatz und Warschauer Brücke die Fallzahlen zurückgehen, steigen diese in den Bereichen Görlitzer Park, Hermannstraße und Kottbusser Tor leicht an. Ursächlich für diese Entwicklung sind zumeist die Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz sowie Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz.

Gibt es eigentlich bezüglich der Corona-Situation in einigen Stadtteilen mehr "Ärger" mit Verstößen als in anderen? Es gibt ja auch einen auffälligen Unterschied der Infiziertenzahlen zwischen den Stadtteilen (Innenstadt versus Außenbezirke).

Anja Dierschke: Die bisher erfassten Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz konnten primär im Innenstadtbereich festgestellt werden. Darüber hinaus wurden im Bereich Spandau und in Hellersdorf weitere Schwerpunkte identifiziert.

Die Berliner Polizei - offiziell ja jetzt Polizei Berlin - ist nicht nur kosmopolitischer, modisch tres chic und weltoffener geworden, auch professioneller im war on terror. Aber sollte es jetzt in dieser Corona-Lage einen Terrorvorfall mit einem Manv (Massenanfall mit vielen Schwer-/Verletzten) geben, wären Ihre Spezialkräfte und auch die BFEs darauf vorbereitet?

Anja Dierschke: Die Polizei Berlin ist insgesamt gut aufgestellt, um mehrere (Groß)Lagen gleichzeitig zu bewältigen.

Gab es in den letzten Tagen auch SEK-Einsätze? Oder sind auch die "Kriminellen" bzw. die Verdächtigen oder mutmaßliche Extreme durch Corona im "Ruhezustand"?

Anja Dierschke: Die Polizei Berlin ist natürlich auch in dieser Zeit tagtäglich im Einsatz, darunter fallen auch Einsätze des Spezialeinsatzkommandos.

"Statistiken über Unfreundlichkeit führt die Polizei Berlin nicht"

Können Sie bestätigen, dass es am helllichten Tag in Rudow ein Autorennen gab, als die Beteiligten wohl die Corona-Ruhe der Straßen ausnutzten?

Anja Dierschke: Am 31. März wurde eine Polizeistreife gegen 12 Uhr in der Rudower Chaussee auf einen BMW aufmerksam, der auf einen vor ihm fahrenden VW sehr dicht auffuhr. In der Folge versuchte der BMW an der Kreuzung Stubenrauchstraße/ Neuköllner Straße den VW beim Rechtsabbiegen links zu überholen, woraufhin der VW beschleunigte, um das Überholen zu verhindern. Bei einem kurzen Halt an einer roten Ampel an der Kreuzung Neuköllner Straße/Efeuweg standen beide Fahrzeuge nebeneinander, beschleunigten beide stark nach Aufleuchten des grünen Ampellichtes und fuhren mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit weiter.

Die Polizisten folgten den Fahrzeugen und stoppten den BMW hinter einer Kreuzung zur Lipschitzallee. Das Fahrzeug des Mannes sowie sein Führerschein wurden beschlagnahmt. Auch der Fahrer des VW wurde etwas später ermittelt. Eine Strafanzeige wegen eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens wurde aufgenommen. Ein Bezug zur derzeitigen Corona-Situation kann nicht hergestellt werden.

Wahrscheinlich gibt es große, sekundäre Auswirkungen von Corona in sehr vielen Gesellschaftsbereichen, die bis jetzt nicht mal ansatzweise abzusehen sind. Vielleicht verändert sich der ganze Bereich der Kriminalität, vielleicht nimmt die Armutskriminalität zu, gar Mundraub wie zur Zeit schon in Napoli oder auf Sizilien … Auch, wenn Menschen sich an Gesichtsmasken gewöhnen, wäre dies ja ein Problem für die Polizei und eigentlich gesetzeswidrig. Kann die Polizei in Berlin, in Deutschland, in Europa das überhaupt schultern? Muss die Politik angesichts eventueller Nachfolge-Probleme für die Gesamtgesellschaft die Polizei nicht viel besser aufstellen, damit Ihre Beamtinnen und Beamten dann nicht Probleme lösen sollen, die eigentlich allgemeiner Natur sind?

Anja Dierschke: Zu Eventualitäten können von hier keine Einschätzungen vorgenommen werden, daher kann die Frage nicht beantwortet werden.

"Die Polizei Berlin kann leider nicht in die Zukunft blicken"

Es war gerade der 1. April: Die Berliner Polizei twitterte aber schon zuvor, bei Tinder-dates werde nur geredet. Der Post wurde unzählig durch Medien und im Internet zitiert. Manche rätselten darüber bis heute … Möchten Sie das so stehen lassen?

Anja Dierschke: Der Twitter-Antwort des Social Media Teams wohnte eine Ironie inne, welche die meisten Nutzenden auch als solche identifizierten. Es wurde keine Stellung zur Rechtmäßigkeit eines solchen Dates bezogen, sondern ein ironisches, in der Realität selten zutreffendes Bild eines solchen gezeichnet.

Hat sich die Situation in Berlin eigentlich in den letzten zehn oder fünf Jahren "gebessert", was Kriminalität, Gewalt, Unfreundlichkeit angeht? Oder wird es wirklich "alles immer schlimmer", wie manche meinen?

Anja Dierschke: Auf der Internetseite der Polizei Berlin finden Sie die Polizeilichen Kriminalstatistiken der Jahre 2004 bis 2019. Anhand dieser ausführlichen Statistiken können Sie die Kriminalitätsentwicklung ablesen. Statistiken über Unfreundlichkeit führt die Polizei Berlin nicht.

Der 1. Mai steht bevor, viele Großveranstaltungen in Berlin, ob politischer oder kultureller Natur, sind im Schwange, allgemein bedeutet der Sommer immer viel Arbeit für die Berliner Polizei. Wird es ein guter Sommer - mit oder ohne Corona dann?

Anja Dierschke: Die Polizei Berlin kann leider nicht in die Zukunft blicken, daher kann die Frage nicht beantwortet werden.

Jan Fedder war auch bei der Hamburger Polizei sehr beliebt. Er sagte einmal: "Ob als Schauspieler oder im Großstadtrevier - mein Hauptberuf ist immer Mensch." Wird die jetzige Jahrhundertsituation viele Beamtinnen und Beamte menschlich verändern?

Anja Dierschke: Hierzu kann von hier keine Einschätzung vorgenommen werden.