Rätsel und Wunder

Muss zwischendurch auch mal sein: Ein Lob der Wikipedia. Und: Wie man im Google-Zeitalter elegant tschechische Algorithmen löst.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Die Wikipedia steckt – unter anderem – voller verborgener Schätze. Als ich mich mal gelegentlich an der Abfassung von Kreuzworträtseln versuchte, war mir die Entdeckung der vollständigen Sammlungen mit 2-Buchstaben- und 3-Buchstaben-Kürzeln eine große Hilfe. Diese wunderbaren Sammlungen waren damals, und auch danach immer wieder, von der Löschung bedroht, da es Wikipedianer gab, denen sich der Sinn der Zusammenstellungen nicht erschließen wollte. Wie der Löschwarnung zu entnehmen war, hielten sie das Ganze für nutzlosen Tand. Aber das sind eben die Leute, die in Wissensstrukturen wie der Wikipedia nur eine herkömmliche Enzyklopädie plus Verlinkung sehen wollen.

Die Sammlungen AA-ZZ (und Aa-Zz) sowie AAA-ZZZ (und Aaa bis Zzz) gibt es zum Glück nach wie vor, sie prosperieren, und sie erinnern mich an die Froggy Page. Die Froggy Page ist eine Seite aus der Frühzeit des Web, ich habe sie 1994 das erste Mal gesehen und begriffen, dass sich mit dem Netz einiges ändern wird. Die Seite wurde von Sandra Loosemore bestückt, einer Yale-Studentin, die Frösche mag und schon als Kind "Froggy" genannt wurde. Es war eine immense Menge an Informationen beziehungsweise Links auf der Seite versammelt, darunter auch die wissenschaftlichen Informationen über Frösche, die man in einem Lexikon erwartet.

Aber das war nur ein kleiner Teil des Froschkompendiums. Der weitaus größte Teil an Wissenswertem befasste sich mit Froschrezepten, Froschwitzen und elektronischen Froschgrußkarten, es gab Mengen an Frischbildern und Audiodateien mit Froschlauten, Froschmärchen, die Texte von Froschsongs, Hinweise auf berühmte Frösche wie Kermit und Internet-Froschressourcen ("On the Internet, nobody knows you're a frog"). Eine solche Vieldimensionalität ging weit über das hinaus, was ich aus einem Lexikon gewohnt war. Ich wünschte mir viele solcher Seiten, zu jeder Art von Wissen. Das haben wir nun: die Wikipedia. Und daran, dass es die 2-Buchstaben-Kürzel und die 3-Buchstaben-Kürzel noch gibt, sehe ich, dass nicht die konservativen Kräfte die Online-Enzyklopädie weiterentwickeln, sondern die, die einen Sinn für die Vieldimensionalität des Wissens haben. Die Froggy Page gibt es übrigens immer noch, wenn auch nur als statisches Museumsstück.

In mein erstes Kreuzworträtsel, um nochmal darauf zurückzukommen, hatte ich einen kolossalen Fehler eingebaut, den ich erst entdeckte, als ich nach drei Tagen fertig war. Ich hatte das Wort Algorithmus falsch geschrieben – ausgerechnet. Da stand nun Algoritmus, und eine Korrektur hätte bedeutet, das ganze Rätselgitter neu aufzubauen. Ein Kreuzworträtsel ist ein kleiner Kosmos, alles hängt mit allem zusammen. Aber auch hier half die Wikipedia. Auf Tschechisch, fand ich nach ein wenig Suchen in den fremdsprachigen Wikipedia-Versionen, heißt Algoritmus Algorithmus. Also brauchte ich nur noch die Fragezeile zu ändern: "Computerhandlungsvorschrift (tschech.)"

Von Kreuzworträtselfachleuten werden Buchstabenkürzel zwar als unelegant angesehen, aber ich wollte einfach ein paar solide, lösbare Rätsel schreiben. Ich hatte eine Schuld abzutragen. Vor langer Zeit hatte ich für eine Stadtzeitung aus Jux ein unlösbares Kreuzworträtsel verfasst. Es bestand aus lauter Fragen, die sich zwar sinnfällig anhörten ("Die der Öffnungsseite des Kartons abgewandte Lasche"), jedoch nicht auf den Begriff zu bringen waren. Als dann Menschen mit angenagten Bleistiftenden am Rand der Verzweiflung in der Redaktion auftauchten, schämte ich mich.

Nun wollte ich endlich ein paar ordentliche, auch als Gefühl nach einem kleinen Glücksempfinden hin lösbare Kreuzworträtsel schreiben. Die Volte mit dem tschechischen Algorithmus fand ich im Zeitalter von Google verantwortbar. Und es sind nicht nur Kreuzworträtsler, denen der Wert von Buchstabenkürzeln klar ist.

Als der Journalist und Hacker Paul Boutin gefragt wurde, was er für das größte Computer-Problem der 90er Jahre halte, lautete seine Antwort: "Dass es nur 17.000 Dreibuchstabenabkürzel gibt." Genau genommen sind es 26 hoch 3 = 17.576 Kombinationen, aber was noch viel interessanter ist: Es gibt in der Wikipedia auch eine Liste ungelöster Probleme aus verschiedenen Bereichen von Wissenschaft und Technik. Mich würde zum Beispiel interessieren, wie man ein feststehendes Wort wie Aufzug dazu bringen kann, wirklichkeitsnäher zu werden, da ein Aufzug der abwärts fährt ja genau genommen Abzug heißen, das Wort also eigentlich oszillieren müsste.

Der Liste ungelöster Probleme haben die Leute vom Listversum ihre Charts der 10 ungelöstesten Mysterien der Welt hinzugesellt, darunter die Steinkugeln von Costa Rica – deren Geheimnis allerdings längst von Indiana Jones gelöst worden ist –, die Ura-Linda-Chronik (eine Fälschung, auch als "Himmlers Bibel" bekannt) und die Weltkarte des osmanischen Admirals Piri Reis.

Wer gern nach dem Abendessen noch ein bisschen dechiffriert, wird eventuell Schwergewichtsmysterien wie das Voynich-Manuskript vermissen. Die vielfältigen Entschlüsselungsansätze zu dem sonderbaren Dokument werden in einem spezialisierten Wiki gesammelt. Und natürlich gibt es dazu einen ausführlichen und relativ vieldimensionalen Artikel in der Wikipedia. (wst)