Corona: Woher kommen die Verschwörungstheorien?

Grafik: TP

Es gab zu viele Korrekturen im Corona-Narrativ

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Wer sich dieser Tage bei alten Freunden nach der Befindlichkeit erkundigt oder gar einen Blick in seine Facebook-Timeline wagt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen müssen, dass die Corona-Pandemie so manchen Kopf durcheinandergebracht hat. Da werden Bilder von selbstgezimmerten Grabkreuzen für Artikel 18 des Grundgesetzes gepostet, mit "Tod und Sterben sehen wir nicht als Risiko" zu Lockerungen der Kontaktsperre aufgerufen oder verwackelte YouTube-Videos veröffentlicht, in denen Demoorganisatoren ihr Publikum mit neuen Arrangements des Volkslieds ‚Die Gedanken sind frei‘ beglücken.

Wer Zweifel am Geisteszustand seiner Mitmenschen anmeldet, findet in diesen Wochen gute Argumente. Denn selbst Personen, die man seit Jahren zu kennen glaubt und immer für grundvernünftige Zeitgenossen hielt, wittern plötzlich hinter jeder Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus‘ mindestens das Ende der Demokratie, wenn nicht gar eine Verschwörung, in der Bill Gates, George Soros und die Telekommunikationsbranche im Geheimen ihre Strippen ziehen.

Eine solche Epidemie der Unvernunft hat unzählige Gründe, zu denen man in den letzten Tagen viel Kluges lesen und hören konnte. Vergessen wird dabei aber, dass auch die mitunter widersprüchliche Kommunikation der Behörden und Experten sowie eine in Teilen sichtlich überforderte Medienlandschaft hier einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet haben.

Erinnern wir uns zurück an die unübersichtliche Lage Ende Februar diesen Jahres: Gesicherte Informationen über die Gefahr des Coronavirus‘ sind in Europa ebenso wenig vorhanden wie Erfahrungen im Umgang mit einer Pandemie. Politik, Behörden und Wissenschaft stellt dies vor ein Dilemma: Einerseits verlangt eine verängstigte Öffentlichkeit nach Handlungsempfehlungen sowie schnellen und effektiven Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Andererseits ändert sich die Informationslage beinahe im Tagesrhythmus. Was gestern noch vernünftig erschien, kann sich morgen bereits als Fehleinschätzung erweisen.

Nach sich häufenden Berichten über Diebstähle von Schutzausrüstung aus Krankenhäusern teilt das Robert-Koch-Institut - wohl mehr als erzieherische Maßnahme, denn als medizinische Empfehlung - zum wiederholten Mal mit, dass "das Tragen von Gesichtsmasken unnötig" sei, auf einen wirksamen Schutz durch das Tragen einer Maske "gebe es keinen wissenschaftlichen Hinweis". Zu diesem Zeitpunkt liegen jedoch aus anderen Ländern bereits konträre Erfahrungswerte vor - wie später in verschiedenen Medien kritisiert wird. Anfang April korrigiert das RKI überraschend seine Empfehlung und kurze Zeit später wird das Tragen einer Maske in ÖPNV und Supermarkt zur Pflicht.

Es handelt sich hierbei allerdings nicht um die erste Korrektur im öffentlichen Corona-Narrativ. Bevor sich Europa in den Lockdown begab, wurde das Coronavirus von vielen einflussreichen Debattenteilnehmern systematisch verharmlost. Manche Stimmen warnten nicht nur vor der angeblich unbegründeten Corona-Panik, sondern diskreditierten Menschen, denen die Meldungen aus China Sorge bereiteten und gut begründete Reiseeinschränkungen forderten.

Für einen journalistischen Tiefpunkt hat hier zweifelsfrei die BR-Sendung quer gesorgt: Nicht nur wurde die Gefahr durch das Coronavirus selbstgewiss heruntergespielt, ohne dass man - wie man selbst zugab - über valide Informationen aus der Krisenregion Wuhan verfügte, man hat die um ihre Gesundheit besorgten Menschen in einem mittlerweile gelöschten Beitrag pauschal als rechte Trolle verunglimpft. Ein Vorwurf, der in einer späteren Stellungnahme noch einmal bekräftigt wurde.

Aber auch ein gelegentlicher Dissens zwischen Experten wie Christian Drosten, Alexander Kekulé oder Hendrick Streeck, beispielsweise zur Relevanz von Modellrechnungen, im wissenschaftlichen Betrieb an und für sich nichts Ungewöhnliches, wurde von click-hungrigen Journalisten zum Virologen-Streit hochgejazzt. Beim Publikum haben diese für Nicht-Wissenschaftler kaum nachvollziehbaren Auseinandersetzungen offenkundig für Irritationen gesorgt. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident wird wohl nicht der einzige gewesen sein, der in dem Wust aus Infektions-, Reproduktions- und Todeszahlen gelegentlich den Überblick verloren hat.

Verschwörungstheorien bieten Suchenden Orientierung

Institutionen aber, die vorschnell Fakten und Handlungsempfehlungen herausgeben, diese aber nach kürzester Zeit korrigieren müssen, verspielen das ihnen entgegengebrachte Vertrauen. Wer zudem nicht die Größe besitzt, eine eindeutige Fehleinschätzung öffentlich einzugestehen und zu erklären, der wirkt unzuverlässig und riskiert letztlich, dass sich das Publikum abwendet, seine Informationen aus alternativen Quellen bezieht und nach eigenen Erklärungen für das Geschehen sucht. Krude Bewegungen wie Widerstand 2020 oder Querdenker 711 sind das Ergebnis.

Verschwörungstheorien müssen in diesem Zusammenhang als simple, manchmal dumme, häufig abstruse Erklärungen für einen komplexen Sachverhalt verstanden werden, die Menschen Orientierung im Chaos einer als diffus empfundenen Welt bieten. Verschwörungstheorien sind der Kitt, mit dem ein Riss zugespachelt wird. Ein Riss, der zwischen dem Wirklichkeitsnarrativ der Medienöffentlichkeit und dem eigenen Realitätseindruck entsteht - ein Phänomen, das spätestens seit der Flüchtlingskrise bekannt ist.

Wirksame Mittel gegen Verschwörungstheorien stehen zur Verfügung

Die Mittel zur Vorbeugung von Verschwörungstheorien sind glücklicherweise denkbar einfach: Zunächst einmal sollten Medien und Behörden künftig den Mut aufbringen, Unsicherheiten zuzugeben und eine neue unübersichtliche Situation als solche zu benennen. Die Adressaten haben dafür eher Verständnis als für Falschmeldungen und widersprüchliche Botschaften. Jens Spahn hat mit seiner Befürchtung, man werde sich nach der Pandemie wohl viel verzeihen müssen, hier eindrucksvolle Pionierarbeit geleistet. Auch Christian Drosten hat hier vieles richtig gemacht.

Zweitens haben manche Medien offensichtlich akuten Fortbildungsbedarf im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wie schwierig die Formulierung valider Hypothesen, wie unsicher die Evidenz einer wissenschaftlichen Beobachtung mitunter ist, scheint Journalisten nicht immer ausreichend bewusst zu sein. Die Gegenstände der Wissenschaft - insbesondere wenn uns ihre Existenz wie im Beispiel des Coronavirus‘ erst seit Kurzem bekannt ist - sind in hohem Maße unzugänglich, die Umgebung, in der wissenschaftliche Fakten entstehen, mitunter hochgradig sensibel.

Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung umweht daher notwendigerweise eine größere Unsicherheit als beispielsweise die Rechercheergebnisse einer journalistischen Reportage. Berichterstattung über wissenschaftliche Aussagen bedarf daher nicht nur großer Präzision, sondern auch akribisch aufbereiteter Hintergrundinformationen. Verkürzungen und Entkontextualisierungen sind ebenso Tabu wie Aussagen, die einen absoluten Gültigkeitsanspruch implizieren.

Aber auch die Wissenschaft muss sich drittens hinterfragen, ob sie ihre Arbeitsweisen und Forschungsergebnisse adressatengerecht kommuniziert. Eine Erklärung der Kontexte von Forschung kann dabei helfen, die Schwierigkeiten wissenschaftlicher Arbeit transparent zu machen und Verständnis für die Unmöglichkeit sicherer Aussagen zu schaffen.

Versuchen wir uns an diese Regeln zu halten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird es uns danken.

Tobias M. Schwaiger hat Medien-, Kultur-, Film- und Literaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und am University College London studiert. In seiner 2019 erschienenen Dissertation beschäftigte er sich mit dem Wissenschaftsbild im Science-Fiction-Film.

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