Sahra Wagenknecht, quo vadis?

Sahra Wagenknecht. Sahra_Wagenknecht_Leipziger_Buchmesse_2016.JPG:Bild: Heike Huslage-Koch/CC-BY-SA-4.0

Zum neuesten Kolumnistinnen-Job von Sahra Wagenknecht bei Focus Online

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Sahra Wagenknechts Vorbilder sind Mélenchon in Frankreich und Corbyn in Großbritannien. Sie arbeitet verschiedene Optionen ab, um eine personenzentrierte Bewegung auch in Deutschland auf die Beine zu stellen.

Von der Linkspartei hat sie sich innerlich mutmaßlich schon vor längerer Zeit verabschiedet. Mit ihr allein als Teil des konventionellen Parteienspektrums lässt sich aus ihrer Sicht in diesem Land nichts Wesentliches verändern. Dennoch lag - und liegt - ihr Fokus mutmaßlich weiterhin darauf, Veränderungen maßgeblich über das Parlament herbeizuführen, was nunmal ohne eine Partei nicht geht. Meine unmaßgebliche Prognose: Sahra Wagenknecht wird noch dieses Jahr eine neue Partei gründen.

Bewegung "Aufstehen"

"Aufstehen" war ihr erster Anlauf, eine auf sie persönlich bezogene Bewegung zu initiieren. Breit aufgestellt über alle Parteien mit linken Anteilen und linkem Wählerpotential sollte daraus eine auch im Parlament mehrheitsfähige Bewegung werden, mutmaßlich mit dem Gedanken im Hinterkopf, aus "Aufstehen" nach der zunächst intendierten Sammlungsphase eine "Bewegungs-Partei" zu machen, mit Sahra Wagenknecht an der Spitze.

Das ist gründlich in die Hose gegangen. Als "Aufstehen" im Frühjahr 2019 aufgrund erheblichen Politklüngels, gezielt destruktiv eingesetzter Kräfte innerhalb der Bewegung als auch einer zur Selbstorganisation bedauerlicherweise unfähigen Bewegung schon fast vor die Wand gefahren war, rief Sahra Wagenknecht die Politprominenz auf, sich zurückzuhalten und die Bewegung der Basis "zu übergeben". Gleichzeitig inthronisierte sie ihre Büroangestellte mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, dass ihr "Aufstehen" nicht auf die Füße fällt.

Konkret hieß das, aus "Aufstehen" entweder eine folgsame Kampagnentruppe zu machen oder die Bewegung sukzessive zu beerdigen, damit an Wagenknechts Image nichts von diesem Fehlschlag kleben bleibt. Von dieser Motivation getragen war mutmaßlich auch ihre "vornehme Zurückhaltung" in der Anfangsphase, in der zunächst überhaupt noch nicht - jedenfalls nicht sicher genug - erkennbar war, wohin "Aufstehen" sich entwickeln wird.

Dass der Bewegung darüber hinaus kein "Eigenleben" zugestanden wurde, sondern ihr vielmehr alle dafür erforderlichen Ressourcen vorenthalten wurden, nämlich

  • der Email-Verteiler der 180.000 und
  • die Spendengelder in sechsstelliger Höhe, die dann zugunsten des Personals der Linkspartei verbrannt wurden,

dürfte maßgeblich darauf zurückzuführen sein, auf jeden Fall zu verhindern, dass sich aus "Aufstehen" heraus doch noch eine Partei als ihr parlamentarischer Arm ausgründen könnte. Für "Aufstehen" bleibt jedenfalls zu hoffen, dass die restlichen Aktiven die Bewegung wieder anschieben, denn ihre Notwendigkeit ist offenkundiger denn je.

"Weitergedacht - Die Wagenknecht-Kolumne"

Derweil geht Sahra Wagenknecht auf zu neuen Ufern. Im November 2019 konnte sie erstmals höhere Beliebtheitswerte verbuchen als Dauerbrenner Angela Merkel. Seither tingelt sie durch alle Medien rauf und runter, egal ob Küche oder Kultur, Böttingers Quasselrunde oder Polit-Talkshows, Playboy oder Focus: Sahra Wagenknecht marschiert geradewegs in die "Mitte der Gesellschaft".

"Die Linke" und erst recht "Aufstehen" kommen dabei - wenn überhaupt - allenfalls noch als Reminiszenzen an ihre Vergangenheit vor. Mehr denn je zieht sie das ganze als eine One-Woman-Show durch. Bevorzugtes Ziel ist jetzt der "Mittelstand", den sie vorzugsweise als den "unteren Mittelstand" anspricht, aber zum Mittelstand gehört bei ihr auch sowas grundverschiedenes wie mittelgroße Unternehmen, die auch gerne mal ein paar hundert Beschäftigte haben können. Auch ist ihr Wording - schaut man sich ihre erste Kolumne im Focus an - perfekt an die Weltsicht des - oberen - Mittelstandes angepasst.

Prompt wird heftig darüber gestritten, was Sahra Wagenknecht dazu um- oder antreibt: Ist es persönliche Eitelkeit oder ihre strategische Positionierung im Dienst an der guten Sache? Wie auch immer: Am Ende des Tages zählt, was sie damit bewirkt.

Zugunsten von Focus bzw. Focus Online dürfte sie damit zunächst eine Erhöhung der Reichweite bewirken. Bereitwillig spendiert Sahra Wagenknecht diesem Blatt einen Freifahrtschein ins linksliberale Spektrum, das sich bisher für Focus nur als abschreckendes Beispiel interessiert haben dürfte. Jetzt kann Focus sich in Sahra Wagenknechts Reputation sonnen.

Die "Mitte der Gesellschaft"

Der angesprochene "Mittelstand" - so er denn überhaupt politisch und nicht nur mit dem Geldbeutel denkt - dürfte sich durch Sahra Wagenknechts Wording in seiner Sicht der Welt bestätigt fühlen: Da ist die Rede von der "Abhängigkeit und Verletzbarkeit" der nationalen "Volkswirtschaft", von der "exportabhängigen Wirtschaft wie die unsrige", von "Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft", von "chinesischen Dumpingexporten" und "angelsächsischen Finanzinvestoren", die die heimische Wirtschaft bedrohen, von Unternehmen, wie den "Hidden Champions", die "in unserer Volkswirtschaft (...) gut bezahlte Arbeitsplätze bieten" etc.

Die verbale Anbiederung an den Mittelstand gipfelt in den Aussagen, "wer sich schutzlos Importen aussetzt, die die eigenen Standards unterlaufen, ist nicht weltoffen, sondern dumm" und "Wir müssen industrielle Wertschöpfung zurück nach Europa holen und in Schlüsselbranchen wie der Digitalwirtschaft unsere Abhängigkeit überwinden."

All dem im Weg stehe der Finanzkapitalismus und die transnational operierenden Konzerne, die mit ihren globalisierten Wertschöpfungsketten den Mittelstand - als die man in diesem Kontext wohl eher den oberen Mittelstand, die "guten Kapitalisten" vermuten darf - in den Ruin trieben.

All diese Wundertaten möchte Sahra Wagenknecht durch Kapitalverkehrskontrollen und Schutzzölle vollbringen. Dazu sollen wir uns ein Beispiel an China und diversen anderen Staaten nehmen, die ihren Weg und ihren Reichtum gerade durch Protektionismus gegenüber zu starken Konkurrenten gemacht hätten. Abgesehen davon, dass mich das ewige "Wir" fürchterlich stört,

  • weil es die nach wie vor bestehenden Klassengegensätze zukleistert, statt sie zu brandmarken,
  • weil es eine wirtschaftspolitische Solidarität zwischen den deutschen abhängig Beschäftigen und ihren deutschen Ausbeutern einerseits gegenüber dem gemeinsamen Feind in Gestalt der transnationalen Superkonzerne andererseits beschwört - mit der gleichen Argumentation hat übrigens Kanzler Schröder seine SPD unter das Joch der Agenda 2010 gepresst! -
  • weil es das wirkliche "Wir" negiert, nämlich das Wir der Menschlichkeit, das "WIR" der sozialen Gerechtigkeit für die überwältigende Mehrheit der Menschen auf dem Planeten,

also abgesehen davon, fliegen hier einige Dinge kreuz und quer und für mich nicht mehr nachvollziehbar durcheinander. Vielleicht bin ich aber auch nur zu inkompetent, um zu verstehen, was an positivem oder gar politisch linkem Gedankengut Sahra Wagenknecht in ihrer Kolumne an den Mann und die Frau des Mittelstandes bringen möchte.

Was soll das werden? Asterix und Obelix gegen das römische Reich? Wie zuletzt der Zollkrieg USA gegen China vor Augen geführt hat, sind Zölle keine Einbahnstrasse. Sie veranlassen Gegenmaßnahmen. Zölle muss man sich leisten können.

Wirtschaftsschwache Staaten z.B. in Afrika können sich keine Einfuhrzölle leisten, weil dann z.B. die EU ihre Agrarprodukte nicht mehr abnimmt. Deswegen sind die Schwächeren stets erpressbar durch die Stärkeren. Oder soll die BRD gerade als "starke Nation" die Zollkarte spielen? Das klingt an, wenn Sahra Wagenknecht beispielsweise Zölle gegen Solarpanele zu "Dumpingpreisen" fordert.

Wozu hätten solche Zölle geführt? Zunächst wohl dazu, dass es auf deutschen Dächern weitaus weniger Solaranlagen geben würde, als sie durch die Verbilligung der Produktion ermöglicht wurden. Desweiteren dazu, dass ein Haufen chinesischer Arbeiter*innen ihre Arbeit, verloren hätten. So geht Solidarität in der Arbeiterklasse? Will Sahra Wagenknecht gleich die ganze kapitalistische Wertschöpfung zum nationalen Privileg der deutschen Industrie machen, auf dass die Löhne in deutschen Euro statt in chinesischen Renminbi ausbezahlt werden?

So geht Nationalchauvinismus in Reinkultur

Im übrigen beruht die nunmehrige Weltmachtstellung Chinas nicht in erster Linie auf protektionistischen Maßnahmen, sondern schlicht auf den fleißigen und vor allem billigen Händen von einer halben Milliarde chinesischen Arbeiter*innen und dazu einem gehörigen Maß an Vernutzung von Umweltressourcen.

Nicht Schutzzölle haben dem chinesischen Markt auf die Sprünge geholfen, sondern die Profitgier eben der westlichen Weltkonzerne, die Wagenknecht bekämpfen will, die bereit waren, Wissenstranfer nach China zu leisten, um im Gegenzug chinesische Arbeitskraft und damit Wertschöpfung massenhaft zu Dumpingpreisen einzusammeln. Dass das westliche Kapital damit am langen Ende seine eigene Konkurrenz großgezogen hat, spielte keine Rolle für das Einzige was zählt: Der kurzfristig erzielbare Profit.

Zur Not kann man China ja auch wieder in die Steinzeit zurückbomben und die nächste Runde profitablen Aufbaus drehen. Soll das das Vorbild für die deutsche Mittelstandswirtschaft sein? Wenn nicht das, was dann?

Mir scheint, da gehen zwei Dinge ganz gehörig durcheinander: Das eine ist der Schutz von schwachen nationalen Märkten durch Einfuhrzölle, die diese Staaten erheben, um ihre nicht konkurrenzfähige Wirtschaft zu schützen.

Solcherart Zölle purzeln derzeit weltweit runter, was das Zeug hält - Stichwort: Freihandelsabkommen -, und zwar nicht, weil die wirtschaftlichen schwachen Staaten das gerne möchten, sondern weil sie durch eine globale Wirtschaftsoligarchie unausweichlich dazu gepresst werden.

In der Ära konkurrenzloser Großmonopole sind die Zeiten vorbei, in denen man sich noch mit Schutzzöllen behelfen konnte, weil im Rest der Welt noch hinreichend Konkurrenz bestand. Mittlerweile ist so ziemlich jede nationale Wirtschaft erpressbar.

Etwas ganz anderes sind "Schutzzölle", wie sie bei Sahra Wagenknecht ebenfalls anklingen, nämlich solche Zölle, die man auf Produkte erheben könnte, die mit unterbezahlter Arbeit oder unter Zerstörung der Umwelt hergestellt worden sind. Solche Zölle wären übrigens kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke, nämlich der Stärke, Schwächeren die gewünschten Produktionsbedingungen aufzuzwingen.

Doch wozu führt das?

Abstrakt betrachtet heißt das zunächst mal nur, dass sich der Staat, der derartige Zölle erhebt, anstelle eines Konzerns an den genannten Missständen bereichert, indem mit dem Zoll dieser statt jene den Profit aus schlecht bezahlter Arbeit einsackt.

Der Vorteil ist sehr einseitig. Deutsche Arbeiter*innen können ihr Lohnniveau halten, Produktion würde wieder verstärkt hier stattfinden. Die unterbezahlten Arbeiter in unterentwickelten Ländern gingen komplett leer aus - sehr solidarisch, so von Arbeiter zu Arbeiter. Außerdem würden die Lebenshaltungskosten hier immens steigen, was dann mit den Zöllen aufzufangen wäre, die der Staat vorher kassiert hat. Oder die Löhne im globalen Süden würden steigen und die Umwelt weniger zerstört. Dann würden die Zölle ihren Zweck erfüllen und nicht mehr anfallen. Die Produkte aus dem globalen Süden würden im globalen Norden gekauft und die Lebenshaltungskosten würden enorm steigen, ohne mit Zöllen gegenfinanziert zu werden. Gerechter wäre das ohne Zweifel.

Dann sind die Leidtragenden - national betrachtet - die Ärmsten hier, die sich dann die Butter auf dem Brot nicht mehr leisten können, es sei denn, es käme auf nationaler Ebene zu einem Reichtumsausgleich, sprich: sowas wie einer Revolution.

Pampert man nun auch noch die unterentwickelten Länder mit Wissenstransfer, würde das zu einer weiteren Ausweitung von Wegwerfproduktion, zu noch mehr Überproduktion führen, an der dieser Globus ohnehin schon zugrunde zu gehen droht. Die Folge unter den Bedingungen eines fortbestehenden Kapitalismus wäre ein globales Lohndumping-Rattenrennen aller Proleten aller Länder.

Lediglich die Startchancen für das Rattenrennen wären ein bißchen gerechter geworden. Die Vernutzung der Umwelt würde zwar qualitativ abnehmen, aber quantitativ zunehmen. Die Wertschöpfung würde immer noch akkumuliert, führte damit immer noch zu immer mehr und immer stärker konzentriertem Reichtum und damit zu einer Reichtumsoligarchie, die Sahra Wagenknecht mit ihrem Protektionsmodell gerade zu verhindern sucht.

Das Ganze erinnert bestenfalls an einen grün angestrichenen Kapitalismus, der gezielt als Motor für qualitatives Wachstum eingesetzt würde. Aber bei immer weiter laufender Akkumulation würden irgendwann auch die tollsten und umweltfreundlichsten Erfindungen nichts mehr nutzen. Warum? Weil sich, bedingt durch die weitere Umverteilung, niemand mehr das Zeug leisten kann, das er/sie vorher selbst produziert hat. Gewonnen wäre: Nichts.

Verloren scheint eine antikapitalistische Sahra Wagenknecht, die offenbar inzwischen glaubt, sie könnte die Welt mithilfe eines "gebändigten" Kapitalismus zu einem besseren Ort machen, wenn man nur schön säuberlich zwischen den "guten Kapitalisten" und den "bösen Kapitalisten" unterscheidet.

Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wo liegen meine Denkfehler? Ich lasse mich gerne belehren.

P.S.: Warum sich die allmächtige globale Wirtschaftsoligarchie das Modell, billig im globalen Süden einzukaufen und teuer im globalen Norden zu verkaufen, kaputt machen lassen soll, hat mir auch noch niemand erklärt. Im Wettbüro würde ich da eher auf das Römische Reich als auf das kleine gallische Dorf wetten.

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