Grundsätzliches zu Rassismus und Polizeigewalt in den USA

Minneapolis am 29.5.2020. Bild: Hungryogrephotos/CC0

Medien in Deutschland berichten von Polizeigewalt in den USA meist erst, wenn es zu gewalttätigen Protesten kommt - "besorgt" um die innere Ordnung des NATO-Partners. Die Frage, warum US-Polizisten regelmäßig afroamerikanische Bürger töten, spielt dabei kaum eine Rolle

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Der bereits am Boden liegende schwarze George Floyd wird in Minneapolis vom weißen Polizisten Derek Chauvin brutal getötet. Drei weitere Beamte sichern den "Einsatz" ab und schauen unbeteiligt zu, wie der gefesselte Floyd, der mit letzter Kraft um Atem ringt und um sein Leben fleht, langsam an den Folgen der Misshandlung erstickt. Passanten filmen das Geschehen und fordern die Polizei vergeblich auf, die Ambulanz zu rufen oder zumindest den Puls des inzwischen Ohnmächtigen zu tasten. (Das Opfer wurde übrigens verdächtigt, Checks oder Lebensmittelgutscheine für einen Einkauf gefälscht zu haben.)

Jährlich tötet die Polizei in ähnlichen Situationen hunderte schwarze, meist männliche US-Bürger. Tödliche Polizeiübergriffe gegen Schwarze gehören also zum Alltag der US-Gesellschaft.

Seltener wird das Geschehen auf Video festgehalten und wie im Fall der Ermordung von George Floyd millionenfach verbreitet. Der offiziellen Darstellung stehen dann ausnahmsweise Bilder gegenüber, die das polizeiliche Vorgehen als gezielte Tötung wehrloser Schwarzer dokumentieren und die üblichen Notwehr-Legenden der Lüge überführen. Es folgen Demonstrationen, Krawalle und Plünderungen der antirassistischen Bewegung sowie der (schwarzen) Unterschicht. Das ist dann Anlass genug, dass auch die deutschen Medien von dem Fall berichten.

Die Sorge - gemischt mit Häme für die Probleme des ungeliebten US-Präsidenten - gilt dann weniger den schwarzen Opfern der Polizeigewalt als viel mehr der inneren Ordnung des unverzichtbaren NATO-Bündnispartners mit Weltmachtstatus: "Ausschreitungen nach dem Tod eine Afroamerikaners in Minneapolis" (FAZ 29.05.2020)

Ausgangssperren sowie der Einsatz der Nationalgarde und des Militärs zur Aufstandsbekämpfung gegen das eigene Volk - was in anderen Staaten als Beleg für die Unterdrückung ethnischer Minderheiten und als Missachtung der Demonstrationsfreiheit gilt (z.B. "EU 'ernsthaft besorgt' über die Lage in Honkong"; FAZ 30.05.2020) - ist aus Sicht der deutschen Qualitätspresse zur Herstellung der öffentlichen Ordnung im Land der Freiheit dringend geboten.

Die Frage, warum US-Polizisten regelmäßig afroamerikanische Bürger töten, spielt für die staatstragenden Medien folglich kaum eine Rolle. Doch auch Linke und kritische Stimmen begnügen sich meist mit der Anklage, dass der Weltpolizist und globale Richter im eigenen Land "immer noch" gegen jene menschenrechtlichen Prinzipien verstößt, in deren Namen er seine Interessen weltweit so brutal durchsetzt. Die Frage nach dem "Warum?" erscheint dagegen nebensächlich und wird - wenn überhaupt - meist mit "postkolonialen Diskursen" und "rassistischen Zuschreibungen" beantwortet, die aus den Zeiten der Sklaverei und Rassentrennung "tief verwurzelt" überdauert haben sollen.

Einen Zusammenhang zwischen den geachteten Grundrechten der Weltmacht und dem geächteten Vorgehen der Polizei gegen Schwarze können auch die meisten KritikerInnen nicht erkennen. Der folgende Beitrag will den Zusammenhang von Polizei und Rassismus in den USA weniger voreingenommen untersuchen. Das vielleicht irritierende Ergebnis sei vorangestellt: Es sind die allseits geachteten und menschenrechtlich legitimierten Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Eigentum selbst, die den modernen US-Rassismus im Allgemeinen und das polizeiliche Handeln im Besonderen begründen.

Die schwarze Seite der Freiheit

Die rechtliche Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung ist im Land der Freiheit alles andere als eine historische Selbstverständlichkeit. Die Grund- und Freiheitsrechte, welche die Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 als erster Staat zum gottgegebenen und zugleich "dem Menschen" gemäßen Recht (v)erklärten, bezog sich auf das nach ökonomischer und politischer Emanzipation von der britischen Krone strebende weiße Bürgertum:

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Präambel

("Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.")

Weder afrikanische Arbeitssklaven noch die indigene Bevölkerung (deren Vertreibung und Vernichtung ja überhaupt erst den kontinentalen Raum zur Gründung einer staatlich abgesicherten Eigentümergesellschaft" ermöglichte) konnten sich auf die Verfassung der weißen Siedler berufen. Auch nach dem Verbot der Sklaverei in der US-Verfassung von 1865 brauchte es noch hundert Jahre, bis den Schwarzen in einer Mischung aus Anerkennung für ihre überdurchschnittlich hohen Opfer im Zweiten Weltkrieg einerseits und Befriedung einer blutig unterdrückten Bürgerrechtsbewegung andererseits in den 1960er Jahren die vollen Bürgerrechte zugesprochen wurden.

Seit einem halben Jahrhundert dürfen auch die ehemaligen Sklaven als formal gleichwertige Rechtssubjekte in den USA ihr "pursuit of happiness" verfolgen, also an der bürgerlichen Konkurrenz um eine Lebensgrundlage, d. h. Geld, Lohnarbeit, Wohnraum etc., teilnehmen. Der Haken ihrer mühsam errungenen bürgerlichen Grundrechte zeigte sich schnell: Zwar sind sie vor dem Gesetz gleichgestellt und explizit dazu berechtigt, ihre Freiheit im Sinne ihrer eigenen Interessen zu nutzen - allein von den materiellen Mitteln der eigenen Interessenverwirklichung bleiben sie dank des Grundrechts auf Eigentum weitgehend ausgeschlossen. Denn im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist die Verwirklichung des privaten Glücks zwar erlaubt und sogar geboten. Auch stehen die Mittel zur individuellen Bedürfnisbefriedigung in Form gigantischer Warenberge prinzipiell allen zur Verfügung. Jedoch - nur gegen Geld. Und das will "am Markt" erst einmal verdient sein. Dabei entpuppt sich ihre Freiheit mit Marx als doppelte:

Frei in dem Doppelsinn, dass er (der Arbeiter, A. S.-N.) als freie Person über seine Arbeitskraft" als seine Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft" nötigen Sachen.

K. Marx, MEW Bd. 23, S. 183

In Ermangelung von Grund und Boden, natürlichen Ressourcen, Produktionsmitteln etc., mit denen sie auf Immobilien-, Rohstoff- oder Warenmärkten Geld verdienen könnten, bleibt den Afroamerikanern als Chance auf ein Erwerbseinkommen - wie den meisten Weißen auch - nur der Verkauf ihrer Arbeitskraft an ein Unternehmen. Als freie Personen auf der Suche nach Arbeit dürfen die ehemaligen Sklaven also von nun an wollen, was sie früher mussten, nämlich durch ihre Arbeit fremden Reichtum mehren. Allein, der Wille zur Lohnarbeit reicht nicht aus, da es immerhin noch eines Käufers bedarf, der sie verwendet. Und das ist bekanntlich gar nicht selbstverständlich.

Im Wettbewerb um einen Arbeitsplatz müssen die Schwarzen mit bereits etablierten Arbeitskräften, mit neuen Auswanderern aus dem zerstörten Europa und aus Südamerika in einem klassischen Einwanderungsland konkurrieren und sind dem freien und gleichen Wettbewerb aufgrund ihrer schlechten Ausgangsbedingungen denkbar miserabel gewachsen. Auch der Konkurrenz um Schulnoten und Abschlusszeugnisse als Mittel zum Aufstieg in die höheren Positionen der Lohnarbeit können sie meist kaum standhalten, fehlen den Kindern bzw. ihren Eltern doch meist die materiellen und sozialen Mittel, sich gegen die gleichaltrigen weißen Kontrahenten im Bildungssystem durchzusetzen.

Unterm Strich jedenfalls müssen die schwarzen US-Bürger zwar völlig gleichberechtigt um Geld und in der Folge um Arbeit konkurrieren - bekommen deshalb aber noch keine oder nur schlechte und vor allem schlecht bezahlte; nicht zuletzt, weil die Einwanderungspolitik der USA im Interesse ihrer Unternehmer für ein Überangebot an billigen, willigen und qualifizierten Arbeitskräften aus aller Welt sorgt. Afroamerikaner in den USA sind im Vergleich zu weißen Lohnabhängigen daher doppelt so häufig arbeitslos, sofern sie eine Beschäftigung haben, ist diese im Durchschnitt wesentlich schlechter bezahlt. Mehr als ein Viertel lebt deutlich unterhalb der amtlichen Armutsgrenze, die Kindersterblichkeitsrate ist höher, die durchschnittliche Lebenserwartung geringer als die der Weißen.

Ihre mangelnde Zahlungsfähigkeit führt auch dazu, dass sie sich aus freien Stücken auf dem freien Wohnungsmarkt konzentriert in den Armutsquartieren der US-Städte wiederfinden, so dass es seit einem halben Jahrhundert ganz ohne staatlichen Zwang zur - vornehm formuliert - "ethnischen Segregation" kommt. Im Ghetto finden sie sich mit all jenen (Behinderten, Illegalen, Kranken, Alten usw.) vereint, die zwar kaum "Chancen" zum legalen Gelderwerb haben, aber dennoch auf Dollar angewiesen sind, wenn sie im Land der Freiheit (über)leben wollen.

Als freie Personen auf der Suche nach Arbeit dürfen die ehemaligen Sklaven also von nun an wollen, was sie früher mussten, nämlich durch ihre Arbeit fremden Reichtum mehren.

"Lebensbewältigungsstrategien"

Und natürlich entwickeln sie in der Folge die Lebensbewältigungsstrategien, die für die Pauper, für die "Überflüssigen" im Kapitalismus, seit jeher kennzeichnend sind und die wegen der damit verbundenen Störungen der öffentlichen Ordnung zum Gegenstand sozialer und polizeilicher "Arbeit" werden: Entweder die schwarze Unterschicht versucht, sich mit ihrer trostlosen Lage abzufinden,

- indem sie ihren Willen zur Konkurrenz und damit sich selbst schlichtweg aufgibt (Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Schulverweigerung usw.),
- indem sie an ihrem freien Willen verrückt werden (Wahnsinn),
- indem sie Trost im Glauben und in der Gemeinde suchen (einerseits seit jeher erwünscht, andererseits gefährlich - Sekten, Fundamentalismus usw.), - indem sie mit Gewalt eine familiäre Reproduktion zu erzwingen suchen, zu der ihnen angesichts miserabler Wohnverhältnisse, prekärer Arbeit, Geld- oder Zeitnot usw. die Mittel fehlen (häusliche Gewalt, Kindeswohlgefährdung etc.),
- indem sie mit Drogen ihre Not betäuben, die Stimmung aufhellen und auch ohne materielle Grundlage ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht auf "Happiness" wahrzunehmen suchen (Alkoholmissbrauch, Drogenkriminalität etc.).

Oder sie versucht auf unerlaubtem Wege Dollar zu erwerben,

- indem sie fremdes Eigentum aneignen (Diebstahl, Raub, Erpressung usw.),
- indem sie mit Drogen und Waffen handeln,
- indem sie die zum illegalen Erwerb notwendige Organisierung vornehmen, um gegen Konkurrenten und die Ordnungsmacht zu bestehen (Gangs, organisierte Kriminalität).

Während Vertreter der ersten Variante, weil noch weitgehend um Rechtschaffenheit bemüht, eher ein Fall für "Social work", "Community organizing" und "Charity" ist, werden die unvermeidlichen Verstöße der schwarzen, meist männlichen Unterschicht gegen die US-Rechtsordnung von der Polizei im Rahmen ihrer Möglichkeiten hart verfolgt.

Bei der Ausübung ihres staatlichen Auftrags treffen die Polizisten - übrigens auch schwarze Cops - immer wieder auf dieselben Täter mit derselben Hautfarbe in denselben Stadtteilen, so dass sie - auch ohne rassistische Vorurteile - einen ethnisch definierten Tätertypus entdecken: junge, schwarze Männer in den Armutsvierteln! Darauf gründet sich dann die gängige Polizeipraxis des "Racial profiling", die schnell auf einen Pauschalverdacht gegen Schwarze hinaus läuft.

In jedem Fall ist aber die permanente Kollision junger, schwarzer Männer mit der US-Polizei aus den oben genannten Gründen materiell unvermeidlich, ganz unabhängig vom Willen und Bewusstsein der Beteiligten. Und deshalb findet diese Sorte inneren Dauerkriegs der Ordnungsmacht gegen ihre schwarze Unterschicht unvermindert statt - nicht trotz, sondern wegen eines halben Jahrhunderts rechtlicher Gleichstellung und trotz eines schwarzen Ex-Präsidenten im Weißen Haus. (Die sozialistischen Kritiker der Black Panther hatten also recht, als sie der Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King vorwarfen, dass mit der rechtlichen Gleichstellung für die eigentumslosen Massen nichts gewonnen sei - nicht einmal ein gewaltfreies Überleben in Armut.)

In der Zwischenbilanz hält das Land der Freiheit weit über zwei Millionen Bürger gefangen und steht damit im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit an der Spitze. Der Anteil der schwarzen Häftlinge ist überproportional hoch. Etwa jeder 20. schwarze Mann ist Insasse in einem US-Gefängnis. Aber trotz der unvermeidlichen Kollisionen verfügen alle Beteiligten über Wille und Bewusstsein und deuten die Situation entsprechend (falsch).

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