Das Rückenmark weiß, wie’s geht

Lange dachte man, um Gelähmte wieder laufen zu lassen, müsse man Beine ­stimulieren. Falsch, sagt eine kanadische Expertin und setzt direkt am Rückenmark an.

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Das Rückenmark weiß, wie’s geht

(Bild: Ross Neitz)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Susanne Donner

Der Mensch denkt nicht nur mit dem Gehirn. Auch der Körper hat ein Gedächtnis. Das ist zwar schon länger bekannt, praktische Schlussfolgerungen hat jedoch bislang kaum jemand daraus gezogen. Die Neurowissenschaftlerin Vivian Mushahwar von der kanadischen Universität in Alberta ist nun dabei, das zu ändern: Sie konnte zeigen, dass die gesamten koordinierten Bewegungsmuster für das Gehen im Rückenmark gespeichert sind. Mit spezifischer elektrischer Stimulation lassen sie sich wachrufen.

Dabei sind die Orte und Muster der Aktivierung speziesübergreifend nahezu identisch, wie sie bei Primaten und Katzen nachwies und im September 2019 im Journal „Scientific Reports“ öffentlich machte. Es existiert quasi eine Speicherkarte des Gehens in den Rückenmarksnerven. Um die Beine von Gelähmten zu aktivieren, haben Forscher bisher Muskeln angeregt. Sie waren jedoch oft daran gescheitert, weil man dabei die gesamte Koordination, die es fürs Gehen braucht, künstlich nachstellen muss. „Das ist unglaublich schwer“, erklärt Mushahwar.

Die Neurowissenschaftlerin hingegen will mit winzigen Elektroden das Rückenmark stimulieren und so das Programm fürs Gehen wachrufen. Für ihre Experimente an komplett querschnittsgelähmten Menschen werden die Wissenschaftler demnächst die Genehmigung der Zulassungsbehörde FDA beantragen. „Das ist der nächste Schritt“, so Mushahwar. Durch zahlreiche Experimente an Ratten, Schweinen und Katzen ist die Technik den Forschern zufolge weit genug entwickelt, um reif für klinische Studien zu sein.

Die bisherigen Tierversuche zeigen, wie die Experimente ablaufen werden: Acht haarfeine Implantate setzt Mushahwar gemeinsam mit Neurochirurgen auf Höhe der Lendenwirbelsäule direkt in das Rückenmark. Über eine Induktionsspule außerhalb des Körpers leitet sie die Befehle an die Elektroden im Körperinneren – ähnlich wie bei der Übertragung von Tonsignalen in Hörgeräten. Es führen also keine Kabel vom Rückenmark aus dem Körper hinaus. Das ist wichtig, denn das Rückenmark ist der direkte Draht ins Gehirn und ein hochsensibles Einfallstor für Erkrankungen.

TR 3/2020

„Wir konnten bereits zeigen, dass die OP sicher ist und dass sie das Rückenmark nicht verletzt“, erklärt Mushahwar. Die eigentliche Sensation aber ist, dass sie mit winzigen Strömen in der Größenordnung von 10 bis 150 Mikroampere exakt die Bewegungen für das Gehen hervorrufen kann – je nachdem, an welcher Position sie stimuliert. Und das selbst dann, wenn ihre Versuchstiere vollständig und tief betäubt sind. „Das Laufen kann in vier Bewegungsabfolgen gegliedert werden: Bein anheben, nach vorn schwingen, absetzen und nach hinten bewegen. Und genau dieses Bewegungsquartett ist im Rückenmark archiviert“, sagt sie.

So konnten etwa querschnittsgelähmte, sedierte Katzen unter Stimulation ihre Beine bewegen und dabei ihr eigenes Gewicht tragen. Sie könnten so über mehr als einen Kilometer laufen, ergab eine Computerberechnung.

Mushahwar hofft, die Erfolge auf Menschen übertragen zu können. Prinzipiell ist das möglich, wie 2018 eine Arbeitsgruppe um Kendall Lee an der Mayo Clinic in Rochester im US-Staat Minnesota zeigte. Sie hatte einem gelähmten Patienten Elektroden unterhalb des Rückenmarks angebracht. Unter intensiver Physiotherapie konnte er wenige Schritte am Rollator gehen – damals eine aufsehenerregende Neuigkeit. Wenn Mushahwar und ihre Mitstreiter nun noch den richtigen Nerv gleich direkt im Rückenmark treffen, dann, so die Hoffnung, können Patienten auch deutlich längere Wege zurückgelegen.

(jsc)