MH17-Prozess: Gericht gewährt Verteidigung weitere Zeugenanhörungen und Untersuchungen

Das von der Staatsanwaltschaft vertretene Buk-Szenario bleibt offen, das Gericht fordert erneut Satellitendaten aus den USA, will aber russische Militärs nicht hören

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Gestern fand eine wichtige Entscheidung im langsam sich dahinschleppenden MH17-Prozess statt, der schon aufgrund mangelhafter Beweise erst sechs Jahre nach dem Abschuss der Passagiermaschine stattfand und so schon in den Windschatten der Ereignisse geriet. Der Mammutprozess findet nicht nur coronabedingt unter Abwesenheit von Öffentlichkeit statt - eine Nachverfolgung verhindert das Gericht, das die Sitzungen nur live streamen, aber aus fragwürdigen Gründen nicht für die Öffentlichkeit archivieren lässt -, es gibt auch wenig mediale Aufmerksamkeit.

Das Gericht musste am Freitag über Anträge der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung entscheiden, welche weiteren Untersuchungen für den weiteren Verlauf zugelassen und welche abgelehnt werden. Die Verteidigung hat eine ganze Menge an angeblich ungeklärten Fragen und nicht gehörten Zeugen angeführt, um die Einseitigkeit der Ermittlungen zu kritisieren, die Staatsanwaltschaft warf der Verteidigung vor, nur im Nebel herumzustochern und den Prozess hinauszuziehen, während man doch die einzige, alternativlose Anklage gegen die vier Verdächtigen und Russland vertrete. Im Zentrum stand die Frage, ob das Gericht neben dem Buk-Szenario der Staatsanwaltschaft die Untersuchung alternativer Szenarien zulassen wird, also dass eine ukrainische Buk oder ein ukrainisches Kampfflugzeug MH17 abgeschossen hat.

Das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Hendrik Steenhuis hat immerhin einige Forderungen der Verteidigung des Angeklagten Oleg Pulatov, die drei anderen Angeklagten lassen sich nicht vertreten, zugelassen. So gewährte das Gericht der Verteidigung, bestehend aus zwei niederländischen Anwälten und einer russischen Anwältin, Zeit bis zum 31. August oder auch bis zum 2. November, erstmals mit Pulatow zu sprechen, was bislang wegen Covid-19 nicht möglich war. Bis zum nächsten Prozesstag Ende August wollen die Richter auch weitere Zeugen hören, deren Vernehmung von der Verteidigung gefordert wurde, sowie Forderungen der Opferangehörigen behandeln.

Es handelt sich vornehmlich um Zeugen, die sagen, dass sie ein ukrainisches Kampfflugzeug in der Nähe von MH17 gesehen haben und mitunter glauben, dass dieses das Passagierflugzeug abgeschossen hat. Solche Zeugenaussagen hat das Gemeinsame Ermittlungsteam nicht zugelassen, wobei es keinen Zeugen gibt, die das Buk-System beim Abschuss gesehen haben, und wahrscheinlich nur einen, der eine Rakete gesehen haben will.

Dass ein solches Buk-System aus Russland zu den Separatisten gebracht, von dem von diesen kontrolliertem Gebiet MH17 abgeschossen und dann wieder nach Russland zurückgebracht wurde, wird von im Internet von Bellingcat gefundenen Fotos und Videos sowie von abgehörten Telefongesprächen, die alle vom ukrainischen Geheimdinest SBU stammen, abgeleitet. Darauf stützt sich die Klage gegen die vier Beschuldigten, denen nicht vorgeworfen wird, am Abschuss beteiligt gewesen zu sein, sondern in der Kommandokette entscheidend gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft hatte zuletzt ein vom SBU abgehörtes Gespräch zwischen den Angeklagten Dubinsky und Girkin dem Gericht vorgelegt, das aber kaum deren Mitverantwortung beweisen kann, vielleicht aber, dass die Separatisten doch über ein einsatzfähiges Buk-System verfügt haben. Danach habe zuerst ein ukrainisches Kampfflugzeug MH17 abgeschossen, ein zweites sei von einer Buk der Separatisten abgeschossen worden.

US-Satellitenbilder bleiben ein Phantom

Das Gericht stimmte zu, dass ein Experte Bilder und abgehörte Gespräche auf Manipulationen prüft. Überprüft werden sollen auch die Berechnungen für den Abschussort. Überdies kann die Verteidigung mit einem eigenen Experten das teilweise rekonstruierte Flugzeug besichtigen. Interessant ist auch, dass die USA noch einmal aufgefordert werden, die Satellitendaten zur Verfügung zu stellen, die sie angeblich als Beweis besitzen, aber nicht herausrücken wollen (MH17-Prozess: Keine belastbaren Satelliten- und Radardaten).

Der damalige US-Verteidigungsminister John Kerry hatte seinerzeit behauptet, man habe Satellitenbilder, die beweisen, dass MH17 von den Separatisten abgeschossen wurde. Angeblich wurde dem niederländischen Geheimdienst unter Geheimhaltungsverpflichtung Einblick gewährt. Offen ist, ob Kerry geschwindelt hatte, um eine Front gegen die Separatisten und Russland aufzubauen, was auch erfolgreich war, oder ob es tatsächlich diese Bilder gibt.

Schon die vorhergehenden Ermittlungen waren mit dem Manko konfrontiert, dass weder die USA noch die Nato und auch die Ukraine keine Daten herausgaben. Die Ukraine erklärte, dass zufällig alle Radarsysteme zu dieser Zeit - wohlgemerkt als noch ein Luftkrieg stattfand - nicht funktionsfähig waren. Russland kam erst spät mit angeblich zufällig wiedergefundenen primären Radardaten. Auf diesen war kein ukrainisches Kampfflugzeug, aber auch keine Buk-Rakete zu sehen, was das JIT und danach die Anklage aber als unmaßgeblich darstellen wollen, weil es die Buk dennoch gegeben haben könnte. Das stärkte den Verdacht, dass Informationen, die nicht in das Buk-Szenario passen, wegerklärt werden.

Hypothetische Verfolgung von Alternativen zum Buk-Szenario werden abgelehnt

Das Gericht besteht aber darauf, dass nicht, wie von der Verteidigung gefordert, andere Szenarien untersucht werden, wenn die Verteidigung dem Buk-Szenario nicht konkret widerspricht. Das sei noch nicht geschehen. Zudem sei fragwürdig, warum die Verteidigung die Untersuchung alternativer Szenarien fordert, wenn ihr Mandant mit dem Abschuss nichts zu tun hat und dies belegen kann. Das Gericht warte darauf, welches Interesse der Angeklagte bzw. seine Verteidigung hat, andere Szenarien zu verfolgen.

Abgelehnt wurde die Vernehmung des russischen Generalmajors Igor Konashenkov und anderer Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums. Auffällig ist etwa, was John Helmer herausgearbeitet hat, dass das JIT und die Staatsanwaltschaft nicht erklärt haben, wo, wann und von wem die als Beweismittel vorgelegten Buk-Teile gefunden wurden, die belegen sollen, dass MH17 von einer Buk-Rakete abgeschossen wurde. Auf die Erklärungen des russischen Militärs, dass die auf dem Buk-Teil zu sehende Nummer darauf verweist, dass die Rakete 1986 an das ukrainische Militär geliefert worden sei und niemals nach Russland zurückkam, wurde vom JIT nicht eingegangen. In der Regel werden russische Einwürfe als Desinformation oder Fake behandelt und schon damit ohne Begründung abgewiesen oder totgeschwiegen.

Generalmajor Igor Konashenkov hatte dies in einer Pressekonferenz ausgeführt. Verteidigerin Sabine ten Doesschate hat am 23. Juni die Vernehmung des Militärs gefordert. Nachvollziehbar ist nicht, warum eine offizielle russische Erklärung, die ja gerichtsfest belegbar sein sollte, erst einmal gar nicht vor Gericht zur Anhörung zugelassen werden soll.

Verwunderlich bleibt auch, warum die Verteidigung nicht fordert, dass der Privatermittler Josef Resch seine Informationen über den Abschuss vorlegt, für die immerhin ein Interessent viele Millionen gezahlt hat. Seine Bedingung ist, dass er sie unter Anwesenheit von Medien präsentieren kann. Das sollte in einem öffentlichen Prozess eigentlich kein Problem sein. Und wenn die Staatsanwaltschaft die Wahrheit an den Tag bringen will, warum werden dann Informationen über mögliche Täter nicht einmal geprüft?

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