Verhaltensforschung: Hilfsbereite Ratten

Vermindert sich die Hilfsbereitschaft, je mehr passiv bleibende Personen anwesend sind? Forscher haben das mit Ratten untersucht.

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Verhaltensforschung: Hilfsbereite Ratten

(Bild: David Christopher, University of Chicago)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske

Ein Mensch ist in Not, viele bemerken es, aber niemand hilft. Paradoxerweise sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift, je mehr dazu potenziell in der Lage wären. Psychologen sprechen vom Zuschauereffekt (bystander effect) und begründen das Verhalten mit einer Diffusion von Verantwortung oder auch der Angst, sich vor den anderen Herumstehenden zu blamieren. US-Forscher haben jetzt nach Experimenten mit Ratten die Vermutung geäußert, dass die Ursachen tiefer verwurzelt sein könnten.

Das Phänomen der kollektiv unterlassenen Hilfeleistung ist auch als Genovese-Syndrom bekannt, benannt nach Catherine "Kitty" Genovese, deren Ermordung am 13. März 1964 in New York von 38 Zeugen beobachtet wurde, ohne dass jemand eingriff oder sofort die Polizei alarmierte. Zwar hatte die Passivität der Zeugen auch damit zu tun, dass niemand von ihnen die gesamte Tat mitbekam. Dennoch war der Vorfall Anlass, dieses Verhalten in Experimenten psychologisch zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass die Hilfsbereitschaft der Versuchsteilnehmer abnahm, wenn andere, sich passiv verhaltende Personen in der Nähe waren.

Neurobiologen der University of Chicago sind nun der Frage nachgegangen, ob sich der Effekt auf Menschen beschränkt oder auch bei anderen Säugetieren beobachten lässt. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Science Advances berichtet das von Peggy Mason geleitete Forschungsteam von Experimenten, bei denen eine Ratte in einem Käfig gefangen war, aus dem sie von anderen Ratten befreit werden konnte. Die Ratten, die helfen konnten, waren dabei entweder allein, zu zweit oder zu dritt, wobei den zusätzlich anwesenden Tieren bei einigen Experimenten zuvor das Beruhigungsmittel Midazolam verabreicht worden war, sodass ihre Motivation zum Eingreifen äußerst gering war.

Tatsächlich zeigte sich, dass die Anwesenheit passiver Tiere die Hilfsbereitschaft der übrigen Ratten verminderte. Die Gegenwart nicht behandelter Ratten wirkte sich dagegen unterstützend aus. Die Tiere begegneten sich bei den Experimenten zum ersten Mal, gehörten teilweise jedoch unterschiedlichen Arten an. Der Zuschauereffekt zeigte sich nur, wenn diese Arten vorher miteinander vertraut gemacht worden waren.

Auch hier sehen die Forscher eine Parallele zu Menschen, bei denen die Zugehörigkeit der Herumstehenden zur gleichen In-Group ebenfalls ausschlaggebend sei. Sie vermuten daher, dass bei Menschen und Ratten gleichartige Mechanismen wirken könnten.

"Wenn das so ist", schreiben sie, "bedeutet das, dass Ratten entweder größere kognitive und kulturelle Fähigkeiten haben als bisher angenommen oder menschliche Hilfsbereitschaft unabhängig ist von rationalen Überlegungen und kulturellen Einflüssen. Hinweise, dass die Bausteine der gegenseitigen Hilfe aus der Pflege des Nachwuchses und dem Bedürfnis nach Anschluss hervorgehen und bei allen Säugetieren fest verankert sind, sprechen für die letztere Möglichkeit."

(axk)