Rückstau in der Schweinezucht

Nach dem Fleischskandal in den Schlachhöfen von Tönnies und anderen Fleischkonzernen kündigt die Politik Verbesserungen in der Tierhaltung an. Außerdem sollen Arbeiter künftig richtige Arbeitsverträge mit Sozialstandards erhalten.

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Inzwischen sind die Corona-Einschränkungen im Kreis Gütersloh per Gerichtsbeschluss aufgehoben worden. Trotzdem soll Europas größte Fleischfabrik bis zum 17. Juli 2020 geschlossen und die Mitarbeiter in Quarantäne bleiben. Es sei denn, Tönnies legt ein entsprechendes Konzept zum Gesundheits- und Arbeitsschutz vor, dann darf die Produktion auch vor Ablauf der Frist wieder anlaufen. Das stellte der Bürgermeister der Stadt Rheda-Wiedenbrück dem Unternehmen in Aussicht.

Bis zum Schluss wurden im Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück (NRW) täglich bis zu 30.000 Schweine geschlachtet. Dem Deutschem Tierschutzbüro zu Folge werden viele Tiere auf andere Schlachthöfe des Unternehmens verteilt, zum Beispiel nach Weißenfels (Sachsen-Anhalt). Rund 20.000 Schweine werden jeden Tag geschlachtet. Täglich fahren mehr als 100 Tiertransporter vor den Schlachthof, heißt es. Sowohl in Weißenfels als auch in Rheda-Wiedenbrück protestierten Tierschützer Anfang Juli gegen die unhaltbaren Bedingungen in der Massentierhaltung und in den Schlachtbetrieben.

Außerdem wurden in einem niederländischen Schlachthof in Groenlo, einer Niederlassung des Fleischkonzerns Vion nahe der deutschen Grenze, 147 Corona-Infektionen gemeldet. 632 der 657 Beschäftigen sollen hier getestet worden sein. Den Mitarbeitern wurde Heim-Quarantäne angeordnet, der Schlachthof geschlossen. Vion unterhält Schlachthöfe in Deutschland und in den Niederlanden mit rund 12.000 Beschäftigten. So macht das Unternehmen einen Umsatz von 5,1 Milliarden Euro.

Auch in Österreich wurden Mitarbeiter von drei Fleisch verarbeitenden Großbetrieben positiv auf Corona getestet. Zwei der Betriebe sind nicht weit von der deutschen Grenze entfernt.

Tierannahmestopp in Schlachtbetrieben

Die Schließung von Tönnies habe trotz allem Auswirkungen auf die Sauen- und Ferkelaufzucht, erklärt Veterinärmediziner Holger Vogel in einem Interview mit der ARD. So ist die Lieferkette in diesem Bereich effizient durchsynchronisiert. Die Tage der Sauen und Ferkel, die zu Mastschweinen herangezüchtet werden, sind genau abgezählt. Damit den Schlachtbetrieben jederzeit ausreichend Tiermaterial zur Verfügung steht, müssen die Sauen termingerecht abferkeln.

Eine bestimmte Anzahl von Sauen muss immer tragend sein. Dieser Prozess ist nicht ohne weiteres zu stoppen, nur weil ein Schlachtbetrieb plötzlich dicht macht. So kommen die Ferkel, nachdem sie von ihren Müttern entfernt wurden, normalerweise in den Läuferstall. Dieser jedoch sind bereits mit Tieren belegt, die noch nicht in den Maststall umgezogen sind. Weil man nicht mehr wisse, wohin mit den Tieren, könne man die Ferkel nicht mehr von der Sau trennen, erklärt der Tierarzt. Es fehle an freien Plätzen. Schon immer wurden tendenziell zu wenig Stallplätze für zu viele Tiere gebaut. Inzwischen sind die Haltungsbedingungen für Schweine als katastrophal zu bezeichnen.

Ähnliche Probleme gibt es in der Geflügelzucht. Allerdings könne man hier schneller reagieren, weil die Brutzeit nur etwa drei Wochen dauert, weiß Vogel. Im Ernstfall müssten die Tiere aus Tierschutzgründen getötet werden, ohne dass ihr Fleisch verwertet würde. Dann müssen die Tiere über die Tierbeseitigungsanlage entsorgt werden. Notschlachtungen kämen nicht in Frage, weil die Ställe aus Hygienegründen nicht darauf ausgelegt seien. Eine Möglichkeit sei es, die Tiere in andere EU-Mitgliedstaaten zu transportieren und dortige Schlachtkapazitäten nutzen - falls der Markt sie dort aufnimmt.

Schluss mit den Werkverträgen

Nachdem sich bereits im März 2020 erstmals Mitarbeiter mit Corona infiziert hatten, wurden im Mai beim Schlachtkonzern Westfleisch weitere Infizierte entdeckt. Die rumänischen Arbeiter, die sich über Werkverträge dem Unternehmen verpflichteten, waren teilweise in überbelegten Wohnungen untergebracht.

Doch der Betrieb wurde nur vorübergehend geschlossen: Nach etwas mehr als einer Woche durfte der Konzern seinen Betrieb wieder aufnehmen.

Seit Jahrzehnten sind Werkverträge Einfallstor für Ausbeutung und Kriminalität in der Fleischbranche, sagen Kritiker. Die meisten osteuropäischen Arbeiter sind bei Subunternehmen beschäftigt. Sie leben in Gemeinschaftsunterkünften und werden mit Bussen in die Schlachthöfe gebracht - zu Corona-Zeiten ein idealer Herd stetiger Infektionen.

Zumindest mit den Werkverträgen soll ab nächstem Jahr Schluss sein: Das Schlachten und Verarbeiten in Fleischfabriken ist ab 1. Januar 2021 nur noch Arbeitnehmern des eigenen Betriebes erlaubt. Künftig soll es auch häufigere Kontrollen durch Arbeitsschutzbehörden geben. Allerdings gibt es bereits Gesetze und Regelungen rund um Hygienemaßnahmen auf Schlachtbetrieben und Arbeitnehmerrechte.

Gewinnmaximierung durch Fleischexport

Mit einem Vermögen von 2,03 Milliarden Euro gehört Clemens Tönnies nicht nur zu den reichsten Deutschen, sondern auch zu den reichsten Menschen der Welt.

Tönnies zahlt nicht nur zu wenig Lohn an Arbeiter mit Werkverträgen und kassiert überhöhte Mieten für miserable Unterkünfte ab, sondern er produziert auch unvorstellbare Mengen an Fleisch, das auch im Ausland zu Ramschpreisen abgesetzt wird - zum Beispiel in China, wo die afrikanische Schweinegrippe die Tierbestände kürzlich erheblich dezimierte.

Die Menge des nach China exportierten Schweinefleisches hat sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres mehr als verdoppelt. Der monetäre Wert verdreifachte sich sogar auf 424 Millionen Euro. In dem genannten Zeitraum waren die Erlöse im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 14,8 Prozent auf 14,2 Milliarden Euro gestiegen. Für die Verbraucher in Deutschland bedeutete dies sogar einen kurzen Preisanstieg bei Schweinefleisch.

Ein wunder Punkt ist in dem Zusammenhang die Beratertätigkeit des früheren Wirtschafts- und Außenministers Sigmar Gabriel. So soll der Politiker von März bis Ende Mai 2020 von Tönnies 10.000 Euro monatlich kassiert haben, "zuzüglich eines vierstelligen Honorars je Reisetag". Rechtlich sei an dem Verhalten Gabriels zwar nichts zu beanstanden, schreibt die FAZ, trotzdem wirft der Job bei Tönnies Fragen auf. Immerhin habe Gabriel die Ausbeutung in der Fleischindustrie 2015 noch als Schande für Deutschland bezeichnet.

Unternehmer bereichern sich auf Kosten ihrer Arbeiter

Warum dürfen sich kriminelle Multimillionäre auf Kosten ihrer Arbeiter bereichern? Das Geld, das diese Leute verdienen, gehöre in die Taschen der Arbeiter, die das Geld erwirtschaften, fordert der SWR-Journalist Adrian Peter.

Greenpeace-Landwirtschaftsexpertin Stephanie Töwe prangert "Tierleid, Ausbeutung und unhygienische Zustände" an, als extreme Folgen der Billigfleisch-Industrie. Sahra Wagenknecht hingegen sieht in der Ausbeutung eher die Ursache der Missstände. "Die miesen Arbeitsverhältnisse ermöglichen es, Tönnies & Co. trotz der Billigpreise zu Multimilliardären zu werden", erklärt sie in einem Statement vom 25.6.2020.

Im Rahmen der herrschenden Verwertungslogik hängen Ausbeutung von Mensch und Tier und Billig-Fleisch eng miteinander zusammen. Am Tierwohl lässt sich nichts verdienen, und ethische Bedenken bremsen das Hamsterrad der Gewinnmaximierung nur unnötig aus. In dem komplexen System des Produzierens und Konsumierens, in dem immer mehr künstliche Bedürfnisse erzeugt und unliebsame Konkurrenten ausgeschaltet werden, kann es auch nicht den einen Schuldigen geben.

Somit steht Tönnies nur stellvertretend für eine ganze Industrie innerhalb der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird ein höherer Preis für Fleisch alleine die Verhältnisse nicht ändern.

Regierung beschließt Umbau der Nutztierhaltung

Es muss endlich Schluss sein mit den Mega-Ställen, in denen tausende Tiere zusammengepfercht werden, fordert der BUND.

Schluss mit dem Kupieren der Ringelschwänze, Schluss mit dem hohen Antibiotika-Einsatz, der Gülleflut, dem nitratverseuchtem Grundwasser und Treibhausgasemissionen. Und es muss Schluss sein mit der Vernichtung des brasilianischen Regenwaldes, um Flächen für den Anbau von Soja zu schaffen, das als Futter in die EU importiert wird.

Am 3. Juli 2020 beauftragte der Bundestag das Agrarministerium damit, den von einem Expertengremium kürzlich verhandelten Fahrplan für den Umbau der Nutztierhaltung umzusetzen. Details zu Stallumbau, Finanzierung, Strategie, Umweltschutz und betrieblicher Ökonomie müssen noch erarbeitet werden. Für Julia Klöckner stellen die Vorschläge der so genannten Borchert-Kommission die Weichen für einen gesellschaftlichen Konsens über eine Neuausrichtung der Tierhaltung, die sowohl Landwirten als auch dem Tierwohl Rechnung tragen soll.

Ein "Pakt vom Stall bis auf den Teller" soll geschmiedet werden, kündigt die Landwirtschaftsministerin an. Für den Umbau der Tierhaltung sei ein "Generationenvertrag" nötig. Hört sich erstmal gut an, doch besteht die Gefahr, dass diese Worte - ähnlich wie frühere Absichtserklärungen - ins Leere laufen.

Das ganze System muss sich ändern

Das Problem ist, dass der Raubbau an der Natur und die ungerechte Behandlung von Menschen und Tieren von der menschlichen Ernährung komplett entkoppelt sind, erklärt Renate Künast im Interview mit der Berliner Zeitung. Wie wir leben, wie wir produzieren, wie wir transportieren, ob Güter unter ökologischen und sozialverträglichen Bedingungen hergestellt wurden - all das müsste sich grundlegend ändern.

In der Tierhaltung dürfe es nicht nur um ein kleines bisschen mehr Platz für Schweine gehen (siehe Das Leben eines typischen Tönnies-Schweines), erklärt die ernährungspolitische Sprecherin der Grünen. Warum sollten wir viel Geld ausgeben, um minimale bauliche Veränderungen in Ställen zu erreichen?

Konsequent wäre es, das Geld nur dann zu zahlen, wenn auch die Kontrollen verbessert würden. Das aber wollen viele nicht, weil sich dann die Gesetze für die Haltung ändern müssten. So werden wir zwei Systeme haben: eines, in dem die Bauern freiwillig die Haltungsbedingungen verbessern, und eines, in dem weiter Billigfleisch für den Weltmarkt produziert wird, und in dem Tierschutz keine Rolle spielt.

Während die Politiker an neuen Strategien zur Tierhaltung feilen, können wir Konsumenten unsere Verantwortung wahrnehmen: Statt billiges Fleisch aus Massentierhaltung zu kaufen, greifen wir zu Produkten aus artgerechter Haltung, auch wenn es etwas teurer sein sollte. Wer über zu hohe Preise klagt, sollte daran denken, dass Jahr für Jahr rund 4.000 landwirtschaftliche Betriebe aufgeben müssen, weil sie dem anhaltenden Preisdruck nicht standhalten.