Corona: Der Druckkessel in den Familien

Bild: Kamaal Ansari/Pixabay License

Studie: Mehr als 70 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Krise seelisch belastet

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"Psychisches Wohlbefinden" … Es gab noch vor kurzem, bevor die Lockerungen als neues Lebensgefühl einsickerten, erstaunliche Wutanfälle von Frauen, die ansonsten einen kontrollierten Eindruck machten und darauf auch Wert legten. Sie leben im gut situierten Mittelstand, mit Garten und einer großen Wohnung. Die wochenlange Betreuung der Kinder im Schulalter, zusammen lernen, alleine kochen, einkaufen, dann Hausarbeit - alles in der Dauerschleife.

Vor allem die stundenlange Schule zuhause, das Gefühl, das sie die Schule völlig allein gelassen hätte, das hätte sie nervlich an den Rand gebracht und zermürbt. Die Frauen aus dem Elternkreis, denen bei der harmlosen Erkundigung nach ihrem psychischen Wohlbefinden jäh der Kragen platzte, hatten ihre Berufstätigkeit für die Zeit des Lockdowns eingestellt. Auf Twitter las ich zu solchen Lockdown-Klagen, dass sich die "Karens" nicht so haben sollen, es gebe weitaus schlimmere Notlagen. Und die Kinder?

Dazu kursierten viele Annahmen im Kreis der Eltern, von der Sorge über traumatische Angsterfahrungen bei den kleineren Kindern mit ängstlich-besorgten Eltern bis hin zum "Feriengefühl" bei den Kindern im Teenageralter, die die Schule nun in zwei Stunden online am Tag erledigten und den Rest mit Gamen verbrachten.

"Überraschend deutliche Verschlechterung"

Jetzt legt eine Studie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) eine erste quantitative Ermittlung zum psychischen Wohlbefinden von Kindern während der Corona-Pandemie vor. Online befragt wurden zur sogenannten COPSY (Corona und Psyche)-Studie Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren. Kleinkinder wurden also nicht untersucht. Weitere Auskünfte gab die Befragung von 1586 Eltern. Herauskam, dass die Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens "überraschend deutlich ausfiel", so die Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer.

71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen fühlten sich laut der COPSY-Studie durch die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie belastet - bei den Eltern der 7- bis 17-Jährigen waren es sogar 80 Prozent, die eine seelische Belastung durch die Corona-Krise angaben.

Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen bekundeten eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden. Anhand der Daten einer Langzeituntersuchung, die vor Corona durchgeführt wurde, zeige sich, dass dies zuvor nur bei einem Drittel der Fall gewesen sei, heißt es zur COPSY-Studie.

Was wurde genau festgestellt? Wie zeigt sich das geringere psychisches Wohlbefinden, das als Begriff relativ "soft" anmutet?

Das Risiko für psychische Auffälligkeiten steigt von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise. Die Kinder und Jugendlichen machen sich mehr Sorgen und zeigen häufiger Auffälligkeiten wie Hyperaktivität (24 Prozent), emotionale Probleme (21 Prozent) und Verhaltensprobleme (19 Prozent). Auch psychosomatische Beschwerden treten während der Corona-Krise vermehrt auf. Neben Gereiztheit (54 Prozent) und Einschlafproblemen (44 Prozent) sind das beispielsweise Kopf- und Bauchschmerzen (40 bzw. 31 Prozent).

COPSY-Studie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Darüber hinaus äußerten zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen, dass "Schule und Lernen" anstrengender seien als vor Corona. Der schulische Alltag wurde teilweise als "extrem belastend" empfunden. Das sei wenig verwunderlich, erklärt Studienleiterin Ravens-Sieberer, da den Heranwachsenden die gewohnte Tagesstruktur und ihre Freunde fehlen. "Beides ist für die psychische Gesundheit sehr wichtig."

Der "Hausarrest"

Der durch die Anti-Corona Maßnahmen verhängte "Hausarrest" erhöhte, obwohl er in Deutschland weniger strenge Auflagen hatte, die Spannungen innerhalb der Familien. Es häuften sich die Streitigkeiten im Druckkessel. Die Scheidungsraten steigen, wurde vor Wochen berichtet, "voraussichtlich um ein Fünffaches" - so eine Meinungsumfrage(!) Mitte Juni. Möglicherweise haben sich die Gemüter seither wieder abgekühlt. Genaue Zahlen gibt es noch nicht.

Aber mehr als ein Viertel der Jugendlichen (27 Prozent) und 37 Prozent der Eltern berichteten in der Studie (durchgeführt vom 10. Mai bis 10. Juni) von einer Verschlechterung der Stimmung: mehr Streitigkeiten als vor der Corona-Krise.

Wie auch bei den perspektivisch anders und größer angelegten Auswertungen - beispielsweise zu den Auswirkungen des Lockdowns auf dem Arbeitsmarkt in den USA - zeigt sich die mittlerweile bekannte Eigentümlichkeit, wonach die Auswirkungen der Pandemie und der Gegenmaßnahmen vor allem so die ohnehin schon benachteiligten Gesellschaftsschichten besonders trifft.

Dort ist der Druckkessel auf eine ganz andere Art mit existenziellen Ängsten aufgeladen und wichtige Ausstattung und "Know-How" fehlen, das in besseren Milieus als Selbstverständlichkeit genommen wird - und ihren Vorsprung garantieren - und es weniger Ausweichmöglichkeiten gibt.

Vor allem Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss beziehungsweise einen Migrationshintergrund haben, erleben die Corona-bedingten Veränderungen als äußerst schwierig. Fehlende finanzielle Ressourcen und ein beengter Wohnraum führen ebenfalls zu einem hohen Risiko für psychische Auffälligkeiten. Mangelnde Rückzugsmöglichkeiten und fehlende Tagestruktur können besonders in Krisenzeiten zu Streit und Konflikten in der Familie führen.

COPSY-Studie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Und die Angst vor Gewalt?

Gar nicht erwähnt in der Studie wird die Angst in Familien vor Gewalttätigkeiten. Vor einer Woche zitierte der Tagesspiegel eine Rechtsmedizinerin und Leiterin der Gewaltschutzambulanz der Charité, wonach es Anrufe gab von Kindern oder Jugendlichen, "die in ihr Zimmer flüchten, um von dort heimlich die Polizei anzurufen oder aus der elterlichen Wohnung fliehen, um sich vor der Gewalt zu schützen und Hilfe zu holen". Das habe sie so noch nicht erlebt, so Saskia Etzold.

Die Gewaltschutzambulanz der Charité verzeichnet "zum Höhepunkt der Lockerungen" einen Anstieg der Fallzahlen von Gewaltopfern "von 30 Prozent auf 152 Fälle im Vergleich zum Juni 2019 (118 Fälle)". Das seien fast ausschließlich Fälle häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlungen gewesen. Während des Lockdowns im März seien die Fallzahlen zunächst um 24 Prozent im Vergleich zum März des Vorjahres zurückgegangen.