"Statt Menschenrechte einzuhalten, wird die Sea-Watch 3 erneut mit fadenscheinigen Begründungen blockiert"

Die Sea-Watch 3 im sizilianischen Porto Empedocle. Foto: Laila Sieber / Sea Watch Mediateam (Sea-Watch e.V.)

Am Donnerstag setzte die Küstenwache auf Sizilien das Flüchtlings-Rettungsschiff "Seawatch 3" fest. Im Interview berichtet Mattea Weihe über die fragwürdigen Umstände

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Kapitänin Carola Rackete, die sich heute unter anderem für Progressive International von Yanis Varoufakis und Bernie Sanders engagiert, wurde weltweit bekannt und "Spiegel"-Titelporträt, als sie im Juni 2019 entgegen der Order des damaligen Innenministers Italiens, Matteo Salvini (Lega), Flüchtlinge an Bord eines Seenotrettungs-Schiffes des Berliner Vereins Sea Watch e.V. in Lampedusa, Süditalien, an Land brachte - damals begleitet von einem ARD-"Panorama"-Team.

Die Schiffe des mittlerweile auch in Italien und international sehr gut vernetzten Vereins, der über die Berliner Kanzlei Gerloff/Kaleck (dka) organisiert ist, retteten in den letzten Jahren Tausende von Menschen vor dem sicheren Tod. Seit dem Auftritt und dem Spendenaufruf bei Stern TV ist Sea Watch einer großen Öffentlichkeit bekannt. Zusammen mit "Monitor" enthüllte Sea Watch das Sterben im Mittelmeer. Telepolis telefonierte mit Mattea Weihe, Crew-Mitglied von Sea Watch.

Am Donnerstag berichteten viele Medien in Deutschland, RAI24 und Il Manifesto in Italien und mehrere Medien vor allem in Spanien und Griechenland über das Festsetzen eures Seenotrettungsschiffes "Sea-Watch 3" im sizilianischen Hafen Porto Empedocle. Die Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit waren allerdings weitgehend bescheidener als noch in Vor-Corona-Zeiten oder gar mit unbestätigten Vermutungen aufgeladen. Schon die Rettungsaktionen zuvor wurden mit absurdester "White Angst" aufgeladen. Das Leben und Überleben von Geflüchteten scheint temporärem Mitleiden der europäischen Öffentlichkeit zu unterliegen. Was geschah wirklich im Hafen von Porto Empedocle?

Mattea Weihe: Am späten Mittwochabend kamen Beamte der Guardia Costiera an Bord unseres Schiffes und teilten unserer Besatzung mit, dass eine routinemäßige Überprüfung des Schiffes stattfinde - eine sogenannte Port State Control. Kurze Zeit später wurde unserem Team dann mitgeteilt, dass die Sea-Watch 3 nicht auslaufen darf. In der Behördensprache nennt man das einen administrative block, aber der lässt sicherlich einigen Raum für Vermutungen…

Warum?

Mattea Weihe: Also, das Fragwürdige war ja, dass drei Minuten, also tatsächlich drei Minuten, nachdem die italienischen Beamten unser Schiff verlassen hatten, die Pressestelle in der Zentrale der italienischen Küstenwache über die größte italienische Nachrichtenagentur ANSA eine offizielle Pressemeldung herausgab, in der der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, dass unser Schiff im Hafen festgesetzt wurde, aus offiziell technischen Gründen und wir also vorerst nicht mehr auslaufen dürfen …

"Mit der neuen Regierung in Italien kooperierten wir eigentlich bisher ganz gut!"

Du meinst, es war geplant, "technische Mängel" zu "finden", und die de-facto-Entscheidung wurde schon vorher getroffen und dann einfach nur de jure ausgeführt als sogenannter Verwaltungsakt?

Mattea Weihe: Es ist absurd und recht durchschaubar. Die offizielle Begründung in dem Ablehnungsbescheid lautet in der Seerechtssprache: "Officially detained".

Schön beschrieben auf gewohnt schönem italienischen Amts-Papier mit elegantesten Serif-Lettern … Kein Komma vergessen … und doch klingt es behördlich-deutsch und es geht um Menschenleben, wer leben darf und wer sterben soll …

Mattea Weihe: Es ist menschenverachtend. Es geht nicht um Sicherheit auf See - es geht um Politik! Sie wollen das Auslaufen ziviler Seenotrettungsschiffe verzögern - und das ist das eigentliche politische Ziel.

Aber wer soll das angeordnet haben?

Mattea Weihe: Das kann man nur vermuten. Mit den italienischen Behörden kooperierten wir die letzten Wochen eigentlich ganz gut.

"Eigentlich" … Was heißt das?

Mattea Weihe: Es gab einige positive Signale … es war nicht mehr die Aggressionspolitik des vorherigen Innenministers Matteo Salvini von der Lega. Auch im Alltag und während unserer Rettungsoperationen auf hoher See funktionierte die Kooperation mit den italienischen Behörden okay - im Gegensatz zum Beispiel auch zu den maltesischen Behörden...

"Es gibt push-backs! Auch auf hoher See!"

Nessun problema? Wirklich bei fast allen Operationen? Italienerinnen und Italiener denken ja eigentlich unkompliziert … ?

Mattea Weihe: Das große Problem ist: Es gibt push-backs! Auch auf hoher See! Es gab etliche konkrete Vorfälle, die wir nicht alle sozusagen live beobachten konnten. Die maltesische Küstenwache hat Fischerboote zum Beispiel aufgefordert, Gerettete zurück nach Libyen zu bringen.

So wie an den Südostgrenzen der EU? Es gab etliche Tote dadurch, wie die ARD berichtete …

Mattea Weihe: In Libyen landen die Menschen direkt in den Lagern. Das ist illegal und bricht jedes nationale und internationale Recht, das Seerecht und das Völkerrecht sowie viele Konventionen. Sie in die Lager der Milizen zu schicken, entbehrt jeder Menschlichkeit …

Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bezeichneten diese ja gegenüber der "Welt" als "KZs" …

Mattea Weihe: Man hält sich an keine Regeln mehr - in Malta nicht, in Libyen nicht, in der EU oftmals und immer öfter auch nicht … In Europa und auf dem Mittelmeer gilt in Bezug auf Geflüchtete kein geltendes Recht mehr. Diese Menschen werden sich selbst überlassen - den Gewalten des Meeres und der Gewalt, die ihnen physisch widerfährt.

"Corona hat einen Vorhang über das Mittelmeer gelegt: Der Tod dort ist jetzt unsichtbar!"

… Und das nach allem, was sie schon durchgemacht haben, was ihnen angetan wurde in ihren Herkunftsländern und auf dem langem Weg bis hin zum Meer …

Mattea Weihe: … Die gesamte Nachrichtenlage wird natürlich gerade von der Situation um Covid-19 dominiert … Das eine Leiden wird durch das andere verdrängt und fast schon politisch ausgespielt. Corona hat einen Vorhang über das Mittelmeer gelegt: Der Tod dort ist jetzt unsichtbar!

Was wären denn eure zwei, drei Hauptforderungen in dieser Situation, die ja wohl noch bis in 2021 mindestens anhält, wie zu befürchten steht? Was fordert ihr von der EU? Von der Bundesregierung und dem Bundeskanzleramt in der Frage von Leben und Tod?

Mattea Weihe: In erster Linie: Menschlichkeit!

But hope for the best, prepared for the worst …

Mattea Weihe: Wir fordern eine radikale Umkehr in der Migrationspolitik - bisher ist sie auf Abschottung und Abschreckung ausgerichtet. Als erstes müssen push-backs beendet werden. Und die Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache muss eingestellt werden. Es muss eine funktionierende europäische Seenotrettung geben. Wir sind nur da draußen, weil es sonst niemand ist. Seenotrettung ist die Aufgabe der Staaten Europas, nicht unsere.

Der Europäische Rat, in dem Deutschland zurzeit die Präsidentschaft innehat, muss schnellstmöglich einen Crisis Response Mechanism aktivieren. Dadurch könnten sofort finanzielle Mittel freigegeben und aktiviert werden. Diese Krise, das Sterben im Mittelmeer, muss zunächst offiziell deklariert werden. Die Ressourcen sind vorhanden und verfügbar, nur kann man ohne diesen Erlass eines Notstandes nicht darauf zugreifen. Das Ziel dieser Notstandserklärung muss sein: Eine zivile Mission zur Rettung auf dem Mittelmeer, die auf humane Rettungen und das Anlanden von Menschen in europäischen Häfen abzielt. Von der EU finanziert. Ohne Ausreden.

Und langfristig?

Mattea Weihe: Eine humane europäische Migrationspolitik, in der nicht mit leeren Worten über Menschenrechte geredet wird, sondern diese eingehalten werden.

"Die Todeszahlen steigen jetzt wieder an!"

Wie viele Schiffe retten zur Zeit Menschen auf dem Mittelmeer?

Mattea Weihe: Keines.

Keines?

Mattea Weihe: Unsere Sea-Watch 4 wird gemeinsam mit United for Rescue erst im Sommer das erste Mal auslaufen. Nach 2 Wochen Quarantäne liegt nun die Sea-Watch 3 im Hafen fest, nachdem bereits unterschiedliche Schiffe von Sea-Eye, Mission Lifeline oder Open Arms festgesetzt wurden … Viele sammeln gerade Gelder für die Überholung ihrer Schiffe. Die Situation ist nicht einfach.

Mittlerweile habt ihr auch zwei Flugzeuge im Einsatz?

Mattea Weihe: Ja, wir haben zwei Flugzeuge. Eines davon ist die Moonbird. Am Donnerstag sichtete unser Team der Moonbird 268 Menschen auf dem Mittelmeer. Wenig später konnten sie die Insel Lampedusa erreichen … Unsere Flugzeuge fliegen Monitoring Missions, registrieren Menschenverletzungen und unterstützen dabei, die Rettung von Schiffen in Seenot durchzusetzen...

Habt ihr zurzeit denn einen Überblick über die Flüchtlingszahlen? Es wird immer wieder berichtet, sie stiegen an … aufgrund von Prognosen.

Mattea Weihe: Niemand hat dazu seriöse Zahlen, weil die Dunkelziffer von Menschen, die im Mittelmeer ertrinken zu hoch ist. Aber eines lässt sich beobachten und feststellen: Es sind die Todeszahlen, die wieder ansteigen - das sind unsere Erfahrungen, vor allem immer in den Phasen, in denen keine zivilen Seenotrettungsschiffe vor Ort sind. Schuld daran ist die menschenverachtende Migrationspolitik der EU.