NSU 2.0 vs. Kabarettistin: Hessens Polizeidatenbanken sind nicht ganz dicht

Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen Personen des öffentlichen Lebens rechtsextreme Drohbriefe bekommen und Daten von hessischen Polizeirechnern stammen.

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NSU 2.0 vs. Kabarettistin: Hessens Polizeidatenbanken sind nicht ganz dicht

(Bild: mahc/Shutterstock.com)

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Die hessische Polizei muss im Zusammenhang mit rechtsextremen Bedrohungen erneut in den eigenen Reihen ermitteln. Wie am Dienstag bekannt wurde, hat neben weiteren bekannten Persönlichkeiten auch die Berliner Kabarettistin Idil Baydar eine mit "NSU 2.0" unterzeichnete E-Mail erhalten, in der sie mit dem Tod bedroht wird. Zuvor hatten Unbekannte persönliche Daten der Komödiantin von einem Rechner im 4. Revier des Wiesbadener Polizeipräsidiums abgefragt, wie die in dem Fall ermittelnde Frankfurter Staatsanwaltschaft bestätigte.

Zunächst hatte die Frankfurter Rundschau (FR) über einen entsprechenden Polizeivermerk berichtet. Bereits bekannt ist, dass ähnlichen rechtsextremen Drohschreiben an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und die hessische Fraktionsvorsitzende der Linken, Janine Wissler, jeweils Abfragen ihrer persönlichen Daten aus hessischen Polizeidatenbanken vorangegangen waren. Im ersten Fall sollen Informationen von einem Polizeirechner im 1. Frankfurter Revier abgerufen worden sein, im zweiten vom 3. Revier in Wiesbaden.

Baydar, die etwa über YouTube als "Jilet Ayşe" in der Kunstfigur einer 18-jährigen prolligen Kreuzberger Türkin oder als Neuköllner Hausfrau Gerda Grischke bekannt wurde, kritisierte die Polizeiarbeit im ARD-Mittagsmagazin. "Mein Leben ist nicht so, wie es vorher mal war. Ich bin bedroht", beklagte die 45-Jährige. Erfahren habe sie von der Datenabfrage erst aus der Presse: "Von der Polizei habe ich bis heute nichts gehört. Das trägt auch nicht gerade zur Vertrauensbildung bei."

Zuvor hatte die Kabarettistin erklärt, dass sie wegen Todesdrohungen schon 2019 acht Anzeigen erstattet, die Polizei diese aber alle eingestellt habe. Die Nachrichten seien auf ihr Handy über ein Online-Portal gekommen. "Die Plattform war bereit, die Daten herauszurücken, aber die Polizei hat das offenbar nicht einmal angefragt", sagte Baydar der Zeit. Die Ordnungshüter hätten sie sogar gefragt, "wie meine Nummer überhaupt öffentlich werden konnte".

Neben Wissler erhielten auch andere Politiker der Linken in jüngster Zeit Drohschreiben, die etwa mit "Absendern" wie NSU 2.0 oder SS-Obersturmbannführer versehen waren. Betroffen waren die Bundestagsabgeordnete Martina Renner und die Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus, Anne Helm. Bei beiden sollen persönliche Daten im Spiel gewesen sein, die nicht frei zugänglich sind.

Einen Abgriff in Hessen hält Helm hier eher für unwahrscheinlich. Sie erinnerte gegenüber der FR daran, dass ein Disziplinarverfahren gegen einen Berliner Polizeibeamten wegen Geheimnisverrats laufe. Dieser habe Informationen über Ermittlungen in einer Chatgruppe geteilt, in der auch mindestens einer der Hauptverdächtigen aus einem Neuköllner Neonazi-Netzwerk aktiv gewesen sei. Der Polizist habe zum Tatzeitpunkt noch der hessischen Polizei angehört. Insofern gebe es doch wieder eine Verbindung.

In der Affäre über die Drohschreiben und ein mögliches rechtsextremes Netzwerk in Kreisen von Fahndern ist der hessische Landespolizei-Chef Udo Münch jetzt zurückgetreten. Er habe dessen Bitte um Versetzung in den einstweiligen Ruhestand angenommen, teilte Landesinnenminister Peter Beuth der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit.

Münch hatte dem zunehmend selbst unter Druck stehenden CDU-Politiker dem Bericht nach am Montag erläutert, dass ihm schon im März in einer Videokonferenz eine unerlaubte Polizeicomputer-Abfrage zu Gehör gekommen sei. Dazu gebe es auch ein Gesprächsprotokoll. Er habe aber weder die Niederschrift noch den Sachverhalt bewusst wahrgenommen und daher den Minister entgegen der Vorschriften nicht informiert.

Beuth hatte am Freitag das hessische Landeskriminalamt (LKA) gerügt: Es habe ihm vorenthalten, dass Daten über Janine Wissler aus dem Polizeisystem abgefragt worden seien. Er setzte daraufhin mit Hanspeter Mener, den Leiter der Kriminaldirektion im Polizeipräsidium Frankfurt, als Sonderermittler ein. Dieser soll in dem Skandal "die Täter aus der Anonymität" reißen.

Für Schlagzeilen gesorgt hatte voriges Jahr auch, dass ein späterer Dienstgruppenleiter in Hessen fünf weiteren Polizisten in einem geschlossenen Chatforum einen "deutschen Weihnachtsgruß" mit Eisernem Kreuz sowie ein Foto von "etwas braun gewordenen" Plätzchen in Form von Hakenkreuzen geschickt hatte. Dass sich Ordnungshüter verstärkt dienstlich in privaten Messenger-Gruppen austauschen, lässt bei Polizeigewerkschaftlern die Alarmglocken schrillen. Sogar ein Konzert von Helene Fischer führte in Hessen schon zu umfangreichen missbräuchlichen Personenabfragen bei der Polizei, was nun fast schon als Petitesse erscheint.

(axk)