75 Jahre nach Hiroshima: Wenn der Atombombenabwurf in Vergessenheit gerät

Hiroshima ist ein Mahnmal gegen Atomwaffen. Doch die Erinnerung an den Atomangriff von 1945 geht zurück – genauso wie die Abrüstungsbemühung.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 331 Kommentare lesen
75 Jahre nach Hiroshima: Wenn die Erinnerung an den Atombombenabwurf verblasst

Das Ausmaß der Zerstörung nach dem Atomwaffenangriff auf Hiroshima 1945.

(Bild: US-Verteidigungsministerium)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Lars Nicolaysen
  • dpa
Inhaltsverzeichnis

Mit jedem Tag, der verstreicht, fällt die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt schwerer. Jahrein, jahraus appellieren Überlebende des Atombombenabwurfs auf die japanische Stadt Hiroshima an die Vernunft der Menschheit, erinnern an das Grauen, das Leid, den Wahnsinn des Krieges.

Wenn die Welt am Donnerstag der Opfer des Atombombenabwurfs der USA vor 75 Jahren gedenkt, werden Politiker in aller Welt wieder wohlmeinende Reden halten. Doch empfinden viele sie als leere Floskeln: Kaum sei ein Jahrestag vorbei, "telefonieren die Politiker mit der Lobby der Rüstungsindustrie", meint Kenichi Mishima, emeritierter Professor der Universität Osaka. Und in der Tat: Während die Überlebenden von Hiroshima altern, modernisieren die Atommächte ihre Arsenale. Die nukleare Bedrohung nimmt wieder zu.

Der Atompilz nach dem Abwurf der "Little Boy"-Atombombe.

(Bild: George R. Caron (gemeinfrei))

Der Blitz der ersten im Krieg eingesetzten Atombombe verwandelte Hiroshima am 6. August 1945 um 8:15 Ortszeit in ein Inferno: Innerhalb von Sekunden macht eine Druck- und Hitzewelle mit mindestens 6000 Grad die Stadt zu einer lodernden Hölle. Von den 350.000 Bewohnern sterben auf einen Schlag schätzungsweise mehr als 70.000 Menschen; Ende Dezember 1945 liegt die Zahl schon bei 140 000. Am 9. August zündeten die Amerikaner über Nagasaki eine zweite Atombombe. Bis Dezember 1945 kamen dort etwa 70.000 Menschen um. Die genaue Opferzahl wird sich nie ermitteln lassen, weil viele erst an den Spätfolgen der Strahlung starben.

Von einem "himmelschreienden Anschlag" auf die Menschheit sprach Papst Franziskus erst im vergangenen November bei einem Besuch in Hiroshima und Nagasaki. "Hier sind von vielen Männern und Frauen, von ihren Träumen und Hoffnungen, inmitten von Blitz und Feuer nichts als Schatten und Stille zurückgeblieben". Während ein großer Teil der Menschen auf der Welt hungere und leide, würden mit neuen Waffen Vermögen gemacht. Papst Franziskus kritisierte einen "krampfhaften Rückgriff auf Waffen, als ob diese eine friedliche Zukunft gewährleisten könnten".

Nur wenige Tage vor dem Oberhaupt der katholischen Kirche hatte auch Bundesaußenminister Heiko Maas Hiroshima besucht und sich ebenfalls für nukleare Abrüstung eingesetzt. "Die Erinnerung an das Leid der Menschen in Hiroshima und Nagasaki darf nie verblassen. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, dass sich solches Leid niemals wiederholt! Für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen!", schrieb der SPD-Politiker wenige Monate vor dem 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs ins Gedenkbuch des Friedensmuseums. Klare Worte – doch es ändert sich nichts.

Zwar geht die Zahl der Atomsprengköpfe in aller Welt zurück, Anfang dieses Jahres gab es schätzungsweise noch 13.400 solcher Sprengköpfe, wie aus dem Jahresbericht des Friedensforschungsinstituts Sipri hervorgeht. Das ist weniger als ein Fünftel des Arsenals von etwa 70.000, über das die Atommächte zu Spitzenzeiten des Kalten Krieges Mitte der 1980er-Jahre verfügten. Doch die großen Atommächte wie die USA, Russland und China modernisieren ihre Atomwaffenarsenale und machen sie damit einsatzfähiger.

Vor drei Jahren beschlossen zwei Drittel der UN-Mitglieder einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – Großbritannien, China, Frankreich, Russland und die USA, allesamt Staaten, die im Besitz von Atomwaffen sind – traten dem Vertrag aber nicht bei. Deshalb will auch Deutschland nicht beitreten. Gleiches gilt für Japan.

"Zwar ist der Pazifismus, der auf der Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki beruht, heute in Japans Gesellschaft tief verankert", meint Sven Saaler, Professor für moderne Japanische Geschichte an der Sophia Universität in Tokio. Die Politik der japanischen Regierung sei jedoch von "geopolitischen Überlegungen geprägt", sagt er der dpa in Tokio. So gebe es auch in Japan mittlerweile Stimmen, die eine nukleare Bewaffnung des Landes forderten. "Denn ob die USA unter ihrer erratischen Führung noch ein zuverlässiger Bündnispartner sind, ist alles andere als klar", erklärt der Professor.

Japan kritisiere zwar einerseits die nukleare Bewaffnung Nordkoreas. Die Befürworter einer nuklearen Bewaffnung Japans übersähen jedoch, dass das Land den gleichen Weg wie Nordkorea beschreiten müsste. «Es müsste nämlich zuallererst aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten», meint Saaler. Das Hightechland Japan verfüge allerdings schon jetzt über die Technologie, in nur wenigen Wochen atomare Waffen herzustellen. In den rund 50 Atomreaktoren des Landes lagere zudem ausreichend atomwaffentaugliches Material, erklärt Saaler.

Der US-Bomber B-29 "Enola Gay" nach dem Angriff.

(Bild: US-Regierung (gemeinfrei))

"Vielleicht werde ich nicht lang genug leben, die vollständige Abschaffung nuklearer Waffen mitzuerleben, aber es wäre schön, wenn dies passierte", sagte die inzwischen 88 Jahre alte Überlebende des Atombombenabwurfs über Hiroshima, Setsuko Thurlow, kürzlich nach Berichten japanischer Medien. Sie war 13 Jahre alt, als an jenem Morgen des 6. August 1945 der US-Bomber "Enola Gay" die Atombombe mit dem Namen "Little Boy" über Hiroshima abwarf.

Ihre Heimatstadt ist heute ein weltweites Symbol für Krieg – und für Frieden. Thurlow setzt sich mit anderen Überlebenden dafür ein, dass das Grauen von damals nicht in Vergessenheit gerät.

Die Atombombe "Little Boy".

(Bild: US-Regierung (gemeinfrei))

Nach einer Umfrage unter 4700 Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki gaben jedoch 78 Prozent an, dass es schwer für sie geworden sei, die Erinnerungen weiter wach zu halten. Nur 45 Prozent glauben, dass der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen von 2017 tatsächlich irgendwann zur Abschaffung aller Arsenale führen wird. Die Hoffnung darauf schwindet. "Die Überlebenden werden irgendwann wegsterben", sagte der inzwischen 93 Jahre alte Überlebende Shoji Tanaka. "Wir werden die Abschaffung der Atomwaffen der nächsten Generation überlassen."

Wie wichtig die Erinnerung an den Atomangriff auf Hiroshima und die Abschaffung von Atomwaffen ist, zeigt eine Studie von Greenpeace. Demnach würden bei einem Atomangriff auf deutsche Großstädte Hunderttausende Menschen sofort ums Leben kommen, Zehntausende müssten mit längerfristigen Folgen wie einer Krebserkrankung rechnen. Die Physikerin Oda Becker verwendete für die am Mittwoch veröffentlichte Untersuchung im Auftrag von Greenpeace eine Software-Simulation namens Nukemap, die die Folgen eines Atombombenabwurfs für einen bestimmten Ort berechnen soll. Die Studie sei als Beitrag gedacht für "die notwendige Diskussion über eine atomwaffenfreie Welt", erklärte Greenpeace.

Die Studie untersucht drei Szenarien. Bei einem Angriff auf das politische Zentrum in Berlin mit einer eher kleinen Atombombe, die eine Explosionsenergie von 20 Kilotonnen hat (entsprechend der Explosionskraft von 20.000 Tonnen TNT), wäre nach Ergebnissen der Software-Simulation mit rund 145.000 unmittelbar Getöteten zu rechnen. Davon entfielen den Angaben zufolge 25.000 auf die Auswirkungen der Druck- und Hitzewelle sowie 120.000 auf die Fallout-Strahlung in einem größeren Umkreis. "Dazu kommen noch mehr als 50.000 spätere Todesfälle durch eine Krebserkrankung", heißt es in dem Bericht.

Für Frankfurt wurde das Szenario eines Angriffs auf das Finanzzentrum mit einer schweren Atombombe von 550 Kilotonnen berechnet. Hier ermittelte das Programm aufgrund der Daten für die durchschnittliche Umgebungsbevölkerung insgesamt rund 500.000 Todesfälle, darunter 206.080 aufgrund der Druck- und Hitzewelle und der Sofortstrahlung. Das für die Simulation verwendete Modell könne allerdings nicht alle Umstände berücksichtigen, erklärte die Autorin. "Die Zahlen könnten also zu hoch sein. Sie könnten auch zu niedrig sein."

Drittes Szenario ist eine Explosion auf dem Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel, wo nach offiziell nicht bestätigten Informationen US-Atomwaffen mit einer Sprengkraft von jeweils 170 Kilotonnen lagern sollen. Für diesen hypothetischen Fall kam die Software auf insgesamt 130.000 unmittelbare Todesfälle, davon 107.000 durch die Fallout-Strahlung.

Mit einem Heißluftballon und einem Banner demonstrierte Greenpeace dort am Mittwoch für den Abzug der Atomwaffen vom Fliegerhorst. "Atomwaffen abschaffen! - ban nuclear weapons!" lautete die Aufschrift auf dem Ballon. Laut einem Greenpeace-Sprecher waren sechs Aktivisten an der Aktion beteiligt.

(olb)