20.000 oder eine Million Corona-Protestierende in Berlin? Wer produziert Fake News?

Fake News oder nicht? Bild: ARD-Faktenfinder

Mit dem Schattenwurf auf einer Aufnahme soll bewiesen werden, dass der ARD-Faktenchecker manipuliert, um die Teilnehmerzahlen klein zu halten - Update

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Es herrschte am vergangenen Wochenende große Aufregung über die Teilnehmerzahl an der Protestkundgebung auf der Straße des 17. Juni am Samstag in Berlin, zu der Querdenken 711 bundesweit aufgerufen hatte. Die Polizei sprach von 20.000 Teilnehmern an der Kundgebung, die schließlich von der Polizei unterbrochen, aber nicht aufgelöst wurde, die Veranstalter sprachen von 1,2 oder sogar 1,3 Millionen (siehe auch: 20.000 oder mehr als eine Million?).

AfD-Politiker verbreiteten ebenfalls die 1,3 Millionen. Sogenannte Alternativmedien wie Rubikon sprechen von 800.000, KenFM von einer Million, wo in einem anderen Beitrag die Medien pauschal und insbesondere die tagesschau der Desinformation beschuldigt wird: "Diese Massenmedien tun aber etwas ganz anderes: Sie betätigen sich im gesamten wertewestlichen Kosmos als Totengräber der Demokratie. Corona ist dabei nur das Sinnbild einer auf die Spitze getriebenen Auftragspropaganda, einer Mischung aus permanenter Angstmache und Hetze, einer pausenlosen, nicht endenwollenden Desinformationswelle."

Damit stimmen die "Alternativmedien" mit den rechten Medien überein. Für Compact ist der 1. August ein "historischer Tag", Jürgen Elsässer war schon am Samstag von "500.000+" überzeugt: "Die Straße des 17. Juni war voll, vom Brandenburger Tor bis fast zum Großen Stern! Das waren in jedem Fall mehr als 500.000, vielleicht sogar eine Million und mehr. Die Lügenpresse sprach unisono von 20.000…" Die NPD feierte die Demo ebenfalls: "Das hat diese Republik noch nicht gesehen: Unzählige Menschen aus verschiedensten Gruppierungen überfluteten am 01. August zum "Tag der Freiheit" die Berliner Innenstadt. Wie viele Teilnehmer es genau waren, läßt sich nur schätzen. Vermutlich war es die größte Demo seit bestehen der BRD. Je schlechter die Systemlüge, desto größer die Gegendemo."

Tatsächlich haben sich die meisten Medien in ihrer Berichterstattung auf die Polizeiangaben verlassen und dieser ohne weitere Überprüfung wiedergegeben. Die Polizei Berlin bestätigte später, dass die Zahl korrekt sei, Luftbilder könne sie wegen des Datenschutzes nicht veröffentlichen. Im Faktenfinder vom 2.8. (Fake News über Zahl der Teilnehmenden) ist etwa Patrick Gensing offenbar möglichst darum bemüht, die Polizeiangaben zu bestätigen.

In seinem Beitrag wird eine Aufnahme von der Loveparade von 2001, an der etwa 800.000 Menschen teilnahmen, einem Foto vom Corona-Protest am Samstag in Berlin gegenüberstellt, das vom Fotografen Christian Spicker gemacht wurde. Die Bildunterschrift lautet: "Angeblich seien 1,3 Millionen Menschen bei der Kundgebung gewesen. Luftbilder zeigen, dass eher die Angaben der Polizei von 20.000 Teilnehmenden realistisch sind." Im Text wird gesagt: "Bezieht man dies auf den Abschnitt der Straße des 17. Juni, auf der die Kundgebung stattfand, kommt man selbst bei großzügigen Berechnungen nicht auf deutlich über 20.000 Menschen am Samstag."

Es wird allerdings nicht dazu gesagt, um welche Uhrzeit die Aufnahme am Samstag gemacht wurde und ob es der Zeitpunkt war, an dem am meisten Teilnehmer zu sehen sind. Auch nicht, von wem die Aufnahme stammt und ob es noch weitere gibt. Dazu fehlt auch die Information, ob die Aufnahme von der Loveparade zum Beginn oder auf dem Höhepunkt gemacht wurde.

Fast schon wissenschaftliche Kritik belegt ...

Recherchiv will in einer Bildanalyse aufzeigen, dass die Aufnahme um 13.00-13.30 gemacht worden sein müsste, also weit vor dem Beginn der Kundgebung (etwa 15:30), als die meisten der Teilnehmer sich noch im Demonstrationszug befanden. Argumentiert wird vor allem mit dem Schatten, den Bäume und Menschen auf dem Foto werfen. Mit dem Programm Sonnenverlauf.de (hier die Einstellung, um selbst damit herumzuspielen), kommt er auf die angebliche Zeit der Aufnahme. Das sei schon fast wissenschaftlich belegt.

Die große diskussionsfrage der letzten Tage: waren es nun 20.000 Menschen, oder doch eher 1,3 Millionen. Schaut man sich die Fotos der "Qualitätsmedien" genauer an, so lässt sich diese Frage auch nicht final ergründen. Aber, bei genauerer Betrachtung fällt einem dann doch ein Umstand ins Auge, der das Zeug hat aufzuzeigen, auf welcher Seite hier manipuliert wird.

Recherchiv
Das Video, das zeigen will, was die Sonne verrät

Auf den ersten Blick alles ganz vernünftig und überzeugend, eine Geschichte hat Recherchiv allerdings nicht, es scheint das erste Video zu sein. Das Beispiel zeigt, wie schnell man auf scheinbar plausible Kritik hereinfallen kann.

Ich schrieb jedenfalls Christian Spicker, den Fotografen des Bildes, an, um die Uhrzeit zu erfahren (er hat noch nicht geantwortet), aber auch die tagesschau, die ich um die Beantwortung der Fragen bat: Warum wurde diese Aufnahme ausgesucht? Warum wurde nicht mitgeteilt, um welche Uhrzeit sie gemacht wurde? Hält die tagesschau-Redaktion an der Argumentation fest, dass der Vergleich der beiden Aufnahmen dafür spricht, dass sich auf dem Höhepunkt der Kundgebung auf der Straße des 17. Juni um die 20.000 Menschen, wie von der Polizei angegeben, aufgehalten haben?

Die ARD-Pressestelle schickte mir die Antwort der Redaktion:

Das Foto stammt von der Agentur Imago. Es wurde, so teilte der Fotograf am vergangenen Sonntag auf Anfrage mit, um 15:39 Uhr aufgenommen - und zwar von der obersten Plattform der Siegessäule aus. Wir haben nach Ihrer Anfrage zur Sicherheit noch einmal bei dem Fotografen nachgefragt, der noch einmal in die Daten der Bilddatei geschaut hat. Das Ergebnis: 15:39 Uhr. Uns liegen die Daten vor.

Die von uns zitierten Schätzungen von gut 20.000 Personen bei der Kundgebung stammen von verschiedenen Reporterinnen und Reportern, die anwesend waren. Auch der erwähnte Fotograf geht in etwa von dieser Größenordnung aus, ebenso die Polizei. Für eine deutlich höhere Teilnehmerzahl liegen uns keine belastbaren Indizien vor.

Nun könnte man sagen, das kann man glauben oder auch nicht. Aber eigentlich hätte man, was ich leider zu spät gemacht habe, die Argumentation mit dem Schatten sich genauer anschauen müssen. Dann hätte man sehen können, dass die Interpretation falsch ist und die Korrektheit der tagesschau-Analyse belegt, die freilich nicht alle erforderlichen Angaben gemacht hat, insbesondere nicht die über die Aufnahmezeit und den Fotografen.

Update: Leider habe ich einen Fehler gemacht und bin auf eine falsche Spur geraten. Ich hatte geschrieben, dass die Uhrzeit nach der Koordinierten Weltzeit (UTC) angegeben ist und dass für Berlin die lokale Uhrzeit, die Mitteleuropäische Sommerzeit, zwei Stunden später sei, UTC + 2. Das würde dann heißen, dass der Sonnenstand nicht 13.00-13.30, sondern 15.00-15.30 gewesen wäre, also die Zeit, als die Kundgebung bereits begonnen hat. Doch die Uhrzeit ist bei sonnenverlauf.de, wie auch im Forum vermerkt und mir in Mails geschrieben wurde - Danke dafür - korrekt angegeben: Es ist die lokale Uhrzeit, also UTC +2.

Links oben ist deutlich zu sehen: UTC + 2

Hier wird ein anderes dpa-Bild besprochen. Das wird auf 15 Uhr geschätzt, wo doch die meisten aus dem Demonstrationszug noch gar nicht angekommen seien. Der BR-Faktenfuchs hat ein Bild aus derselben Perspektive von 15.30 veröffentlicht. Und ein Leser hat mir ein weiteres Foto zugeschickt, auf dem man die Uhrzeit ablesen und sehen kann, dass auch um 15:50 nicht die großen Massen anwesend waren:

Was stimmt nun? Wurde Sonnenstand und Schattenwurf richtig eingeschätzt? Handelt es sich um ein "Lügenfoto der Medien"? Lügen ARD und der Fotograf oder ist Recherchiv auf einer falschen Spur?

Bleibt die Frage, wie viele Teilnehmer - abzüglich von Neugierigen und Zuschauern - waren es wirklich? Wir wissen es nicht. Bekanntlich rechnet die Polizei Zahlen gerne herunter, während Veranstalter sie aufblasen. Die Differenz ist hier aber schon extrem. Vermutlich wird die Zahl der Polizei der realen Zahl näherliegen als die 1,2 oder 1,3 Millionen der Veranstalter. Aber es werden wohl so um die 60.000 - 80.000 gewesen sein. Viele, aber kein "historischer Tag".

Ein Video zeigt die gesamte Länge des Demonstrationszugs, was es ermöglicht, die Zahl der Teilnehmer grob abzuschätzen. Ein Leser schrieb uns diese Abschätzung:

Leute zählen: Ich hab das mit einem Raster gemacht: Hier sieht man, dass der weiße Vogel 3 Minuten bis zur Brücke braucht. Ich habe ein Raster mit 10 Abschnitten perspektivisch verschoben um in etwa die Straße zu treffen (nicht perfekt, sieht man an den Dächern der Stationshäuschen. Der weiße Vogel auf blauem Untergrund braucht ca. 3 Minuten bis zur Brücke, dazwischen sind die 10 Abschnitte. Im ersten Abschnitt sind bestenfalls 40 Leute. Somit sind zwischen Flagge und Brücke vielleicht 350 bis 500 Personen. Da der ganze Zug ca. 80 Minuten dauert, läuft diese Menge 25 bis 27 Mal vorbei (was bei 500 Personen etwa die Zahl von 13.000 ergibt. Wobei man auch berücksichtigen sollte, dass die Dichte des Zugs die letzten 15 Minuten stark abnimmt. Und frei nach Rilke: und dann und wann ein weißer LKW. Und Löcher hat der Zug auch (beides gepaart in Minute 38 zu sehen).

Das kann nur eine grobe Abschätzung sein, die Teilnehmerzahl war vermutlich höher. In den Kommentaren zum Video wurden ebenfalls Abschätzungen berechnet, die in der Regel zu höhren Teilnehmerzahlen an der Demonstration kommen:

Die Rechten sehen sich auf jeden Fall bestärkt durch die angeblich mobilisierte "gewaltige Menschenmasse" - "primär Deutsche ohne Migrationshintergrund, die überwiegend aus dem Mittelstand und der Arbeiterklasse" stammen. Auf Sezession schreibt enthusiasmiert der österreichische Identitäre Martin Sellner:

Jeder, der am 1. 8. in Berlin auf der Straße war, ist ein Mensch, der die Mainstreammedien kritisch hinterfragt. Der Weg zur Migrationskritik ist da nicht weit. Mein kurzer Austausch mit Dr. Bodo Schiffmann, einem der Anführer der Anti-Corona-Bewegung, zeigte bereits, daß die Basis dieser Bewegung nicht wünscht, daß man vor diesem Tabu langfristig halt macht. Was, wenn dieses latente identitäre Potential, aufbricht und neben dem Thema Corona auch der heilige Gral der Globalisten, nämlich ihre Bevölkerungspolitik ins Visier genommen wird? Bereits jetzt wird die Frage der deutschen Souveränität in der Verschwörungskritik heiß und teilweise blumig diskutiert.