Schweden: Die Tote von der Tankstelle und die Hilflosigkeit der Regierung

Norborg ist Schnittpunkt der Territorien zweier berüchtigter und aufstrebender Gangs. Bild: AleWi/CC BY-SA-4.0

Das Land hat ein Problem mit organisierten Banden und Gewaltdelikten

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Auf dem Asphalt, zwischen der Shell-Tankstelle und dem McDonalds des schwedischen Ortes Norsborg, bilden viele Kerzen ein Herz, darin Blumen, weitere Kerzen und handschriftliche letzte Wünsche. Daneben stehen trauernde Menschen, zumeist junge.

Schweden ist erschüttert: Südlich von Stockholm wurde in der Nacht zum Sonntag einem zwölfjährigen Mädchen in den Hals geschossen, sie konnte nicht mehr gerettet werden. Höchstwahrscheinlich ein "Zufallsopfer" bei der Abrechnung von kriminellen Gangs. Die Täter, die aus einem weißen Audi mit vollautomatischen Waffen schossen, sind trotz Kameraüberwachung noch nicht gefasst.

"Wir werden weiter mit Energie das Vermögen der Gesellschaft ausbauen, das Verbrechen mit mehr Polizei, schärferen Strafen und vorbeugende Arbeit zu bekämpfen", meinte der sozialdemokratische Innenminister Mikael Damberg am Montag etwas umständlich gegenüber der Presse.

Schweden hat ein Problem mit organisierten Banden. Auch die Pandemie hat deren Aktivitäten nicht reduziert. Allein im Raum Stockholm kam es in diesem Jahr nach Stand Mitte Juli zu 67 Schießereien, ein Rekordwert, neun Personen starben. Seit 2013 nimmt die Bandengewalt stark zu, das Land hat im Vergleich zu seinen Nachbarn eine ansteigende Statistik, was die Anzahl von Todesopfern bei Gewalttaten angeht.

Die Gangs, die vornehmlich aus jungen Einwanderern bestehen und um Drogenabsatzreviere kämpfen, benutzen oft Bomben, um ihre Gegner einzuschüchtern. Dabei gibt es zumeist keine Todesopfer, doch tragen sie zur einer allgemeinen Verunsicherung bei.

Norsborg, mit der klassischen Hochhäuser-Szenerie der Vororte, gilt als ein Terrain, in der sich das Lebensgefühl der Bewohner zum Schlechten gewandelt hat. Der Ort ist Schnittpunkt der Territorien zweier berüchtigter und aufstrebender Gangs - des "Botkyrka-Netzwerkes" und des "Varby-Netzwerkes". Schon Anfang des Jahres starben in dieser Gegend zwei Personen. Nach schwedischen Medienberichten war die Schießerei diesmal durch die Aufspaltung der Botkykra-Gruppe bedingt. Anwohner berichteten nach dem Mord, wie sehr sich das Umfeld verändert habe, das einstige Sicherheitsgefühl sei nicht mehr da, die Wohlhabenderen zögen weg.

Die Banden brauchen für ihre Auseinandersetzungen junge Mitglieder, die sie neben Schulen in Jugendzentren rekrutieren, so dass einige geschlossen werden mussten. Für Verunsicherung sorgen auch die Schulbrände - allein in der südschwedischen Stadt Lund brannten in diesem Jahr zwölf Mal eine Schule. Darum hält die Zeitung "Expressen" die "Operation Reifeis" für gescheitert. Die Polizei-Aktion sollte gerade diese Gangs massiv unter Druck setzen und sie von ihren Handlungen abbringen.

Die Maßnahmen liefen von November 2019 bis diesen Juni; die kriminellen Aktivitäten in Malmö mit seinen Problembezirken hätten abgenommen, die Polizei vermeldete dort 200 Festnahmen. Auch dass es in dieser Zeit nur 27 Tote in den Kämpfen der Gangs gab, etwas weniger als im vergleichbaren Zeitrahmen ein Jahr davor, erklärt die Polizei zum Erfolg. Zum Fall von Norsborg erklärt NOA-Polizeichef (Entsprechung zu BKA) Stefan Hector, dass der Polizei die Einsatzkräfte fehlten, um die Gangs effektiv zu überwachen: "Der Zuwachs in diesen Milieus ist so groß, dass die Polizei alleine nicht damit zurecht kommt."

Auch der 34-Punkteplan zur Kriminalitätsbekämpfung vorgestellt im vergangenen Herbst, bei dem Ministerpräsident Stefan Löfven stolz auf 50 Strafverschärfungen verwies, scheint nicht zu greifen. Lange waren die Sozialdemokraten für einen eher präventiven, integrationsorientierten Ansatz bei Kriminellen bekannt (Gewaltkriminalität gefährdet rotgrüne Regierung).

Drive-by-Shooting nimmt zu

Gegenüber den Medien erklärt der Kriminologe Mikael Rying, dass es für die Gangs immer weniger Regeln gebe. Durch das zunehmende Nutzen von vollautomatischen Waffen, durch das aus US-Ghettos stammende "Drive-by-Shooting" - das Schießen aus dem fahrenden Auto heraus -, das immer mehr häufiger vorkomme, gebe es in Zukunft mehr Verletzte und Tote, auch bei Unbeteiligten. Dazu gehört wohl auch das zwölfjährige Mädchen, das ihre Hunde ausführte.

Der Kriminologe Jerzy Sarnecki geht von einer zunehmenden Verrohung der Gangs aus, bei dem das Leben für den Augenblick zählt und das eigene und fremde Leben wenig bedeutet. Das Milieu lebt vollkommen abgeschottet von der Polizei, die Aufklärungsrate bei Bandenverbrechen in Schweden ist somit auch entsprechend gering - sie liegt zwischen 20 und 25 Prozent.

Initiativen, die Jugendliche von der Straße zu holen, gibt es viele in Schweden, der Staat fördert diese auch großzügig. Victoria Escobar, eine Aktivistin der Jugendorganisation "Changers Hub", die vor Ort die Tote betrauert, sieht jedoch auch die Grenzen ihrer Arbeit. "Wir haben junge, kriminelle Männer, die sich gegenseitig beschießen, hier muss die Politik etwas tun."

Rechte "Kriegserklärung" gegen das Organisierte Verbrechen

Mit dieser Meinung ist sie nicht alleine - die rotgrüne Minderheitsregierung steht gerade unter Druck. "Wie viele Unschuldige müssen noch sterben, bis die Regierung aufwacht", twittert Henrik Vinge, der Fraktionschef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten.

Die migrationsfeindlichen Rechten haben schon lange ein Konzept präsentiert, den sie als "Kriegserklärung" gegen das Organisierte Verbrechen verstehen und sie sehen sich durch den Mord erneut in ihrer Weltsicht bestätigt. Die Schwedendemokraten sind nicht mehr isoliert wie früher. Im vergangenen Jahr stellten sie zusammen mit zwei bürgerlichen Parteien einen knapp gescheiterten Misstrauensantrag gegen den sozialdemokratischen Justizminister aufgrund der Erfolglosigkeit der Regierung bezüglich der Bandenbekämpfung.

Die bürgerlichen Moderaten, Schwedens größte Oppositionspartei, wollen auch gleich nach den Sommerferien des Reichstags Druck machen, wie deren Abgeordneter Johan Forsell ausgerechnet in der regierungsfreundlichen Zeitung "Aftonbladet" verkündete. Die Forderungen entsprechen in etwa denen der Schwedendemokraten: mehr Kameraüberwachung, mehr Polizei, mehr Gelder für die Polizei, härtere Strafen, eine Kronzeugenregelung gegen das Schweigekartell, mehr Kooperation zwischen Polizei und Sozialdiensten.

Auch verlangt Forsell, dass die Attraktivität, zu einer Gang zu gehören geschwächt werden müsse - er glaubt, dass dies geschehe, wenn mehr Mitglieder in den Gefängnissen sitzen.

Der rasante Gangsterlifestyle ist jedenfalls das schiere Gegenteil zum schwedischen Lebensstil und dem Vertrauen in den Staat, der eine Fürsorge- und Aufsichtspflicht erfüllt und die Besitzverhältnisse der Steuerzahler offen legt. Gleichzeitig wird ein gewisser anonymer Lebensstil gepflegt, man vermeidet zu große menschliche Nähe und ist gerne für sich, auch wenn dies bedeutet, dass man allein ist. Viele Migranten bocken gegen diese schwedische Lebensart auf, manche mit der Kalaschnikow.