Nowitschok und der britische High Court

Der Gerichtsmediziner sollte klären, ob das für den Tod von Dawn Sturgess verantwortliche Parfümfläschchen mit Nowitschok mit Russland verbunden ist, der sich nur individuell mit den russichen Verdächtigen beschäftigen will

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Der Anschlag auf den in Großbritannien lebenden russischen Ex-Spion Skripal und seine Tochter Anfang März 2018 in Saliybury ist bislang eine never ending story. Angeblich haben russische Geheimdienstagenten die Türklinke von Skripals Haus, just als dessen weiter in Russland lebende Tochter bei ihm zu Besuch war, mit dem gefährlichen, zu Zeiten der Sowjetunion entwickelten, aber auch in westlichen Militärlabors bekannten und vorhandenen, schnell und tödlich wirkenden Nervengift Nowitschok bestrichen. Wie genau das alles geschehen sein soll, ist weiterhin ein Geheimnis der britischen Ermittlungsbehörden.

Erst Stunden nach Verlassen des Hauses und nach Besuch von zwei Kneipen wurden die beiden Skripals bewusstlos auf einer Parkbank gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Offenbar haben beide überlebt und sind seit einem Video, in dem Julia Skripal eine vorgefertigte Rede hielt, aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sergei Skripal soll überlebt haben, aber die Öffentlichkeit wurde von den britischen Behörden ausgesperrt. Weder durfte die Öffentlichkeit erfahren, was die beiden Opfer zu berichten haben, noch ist klar, womit Skripal, der durch einen Austausch von Geheimdienstagenten nach Großbritannien kam, beschäftigt war und in welcher Verbindung er mit den britischen Geheimdiensten stand. Großbritannien, das vielen skrupellosen russischen Geschäftemachern ein Exil gewährt hat, machte aus dem Vorfall eine politische Show gegen Russland - alle zogen trotz schwacher Beweismittel mit. Ob die beiden sich noch in Großbritannien befinden, ist ebenso unbekannt wie der Umstand, ob sie freiwillig untergetaucht sind. Das Verschwindenlassen der Opfer sorgt für Misstrauen.

Mit der Mitwirkung der obskuren Organisation Bellingcat wurden bekanntlich zwei Russen (Alexander Petrow und Ruslan Boschiro, die sich als Geschäftsleute darstellten) von den britischen Behörden als Täter benannt und dem russischen Geheimdienst GRU zugeordnet, ein Beweis für die Täterschaft wurde jedoch bislang nicht präsentiert, auch kein überzeugendes Motiv, warum Skripal, der aus russischer Haft freigelassen wurde, nach so vielen Jahren ermordet werden sollte. Sein Wissen war nicht mehr aktuell, möglicherweise war er verwickelt in irgendwelchen kriminellen Machenschaften der russischen Oligarchen, aber darüber ist nichts bekannt und die britischen Geheimdienste wollen da auch keine Aufklärung liefern.

Und vier Monate nach dem Anschlag stirbt Dawn Sturgess an dem Notwitschok aus einem Parfümfläschchen

Monate nach dem Anschlag trat jedoch ein Problem auf, denn es kam zu weiteren Opfern. Dawn Sturgess starb am 8. Juli 2018, nachdem sie sich am 30. Juni mit Nowitschok aus einem Parfümfläschchen besprüht hatte, vielleicht hatte sie das Fläschchen auch nur berührt, das ihr Freund Charlie Rowley gefunden hatte. Sturgess kollabierte, Rowley wurde anschließend auch in das Krankenhaus in Salisbury, in dem auch die Skripals behandelt wurden, eingeliefert, aber überlebte.

Gefunden habe Rowley das Fläschchen in einem Park in Amesbury, wurde berichtet, also ebenfalls in der Nähe des Militärlabors in Porton Down. Er selbst sagte, er wisse nicht, wo er das angeblich in Plastik versiegelte Fläschchen gefunden habe, da er Mülltonnen des Öfteren nach "Schätzen" durchsuche. Die im Fläschchen enthaltene Flüssigkeit habe nicht nach Parfüm gerochen und sei ölig gewesen. Er wusch sich seine Hände ab, die damit in Berührung gekommen waren, Sturgess jedoch nicht, die 15 Minuten später bereits Kopfweh bekam und sich im Bad hinlegen musste.

Schnell wurde der Vorfall mit dem Nowitschok-Anschlag auf die Skripals in Zusammenhang gebracht. Die Täter hätten sich der Flasche entledigt, die dann vier Monate in einem Müllkorb, der nicht geleert wurde, hätte herumliegen müssen. Beweise dafür gibt es keine, die OPCW hat allerdings bestätigt, dass das Nervengift, das Sturges getötet hat, dasselbe ist, das in Salisbury und in biomedizinischen Proben der Skripals gefunden wurde. Es könne aber nicht festgestellt werden, ob das Nowitschok in beiden Fällen aus derselben Produktlinie stammen.

Sturgess-Familie fordert die Einbeziehung Russlands in die gerichtsmedizinische Untersuchung

Die Familie von Sturgess hat gefordert, dass die Untersuchung der Todesumstände von Dawn Sturgess auch die mögliche Rolle Russlands einbeziehen müsse. Die russischen Agenten, die den Anschlag auf die Skripals begangen haben sollen, könnten nämlich absichtlich das Parfümfläschchen mit Nowitschok hinterlassen haben, was zum Tod von hunderten Menschen hätte führen können, da das Nervengift eine "Massenvernichtungswaffe" sei, so der Anwalt Michael Mansfield. So wie das Fläschchen versiegelt worden war, hätte es für Jahrzehnte tödlich sein können, führte ein Rechtsanwalt der Familie an. Möglicherweise hätten die Agenten weitere Nowitschok-Pakete irgendwo abgelegt.

Fragt sich nur, welche Absicht dahinter gestanden haben könnte, wenn das Fläschchen in 20 Jahren oder so gefunden und geöffnet worden wäre. Gleichzeitig scheint klar zu sein, dass es nicht vier Monate in dem Abfalleimer gewesen sein kann. Bekannt ist nicht, dass die angeblichen russischen Agenten Amesbury besucht hatten.

Der Chefgerichtsmediziner von Wiltshire erklärte im Dezember, dass die individuelle Rolle der beiden Beschuldigten für die Ermittlung der Todesursache berücksichtigt und deren Bewegungen im März untersucht werden, aber nicht die Verantwortlichkeit der russischen Regierung. Geprüft werde, ob es sich um eine "widerrechtliche Tötung" (unlawful Killing) gehandelt habe, es gebe keinen Hinweis darauf, dass Sturgess absichtlich getötet werden sollte. Rechtlich gebe es keine Verpflichtung, die Rolle eines ausländischen Staats zu untersuchen, eine gerichtsmedizinische Untersuchung sei kein Ersatz für eine Strafermittlung. Zudem seien der Anschlag auf die Skripals und der Todesfall zeitlich zu weit voneinander entfernt, um die Untersuchung zum Tod von Sturgess zu erweitern. Deswegen schloss er auch aus, die Quelle des Notwitschok zu ermitteln. Er sehe auch nicht, dass Behörden den Schutz der Öffentlichkeit vernachlässigt hätten. Die Anwälte der Familie machten geltend, dass die beiden mutmaßlichen Agenten nicht in einer "Blase" gehandelt hätten, sondern im Einverständnis mit der russischen Regierung. Deswegen legten sie eine Klage gegen den Gerichtsmediziner ein.

Die ambivalente Entscheidung und eine überraschende Bemerkung

Am 24. Juli wies der High Court das Anliegen der Familienangehörigen ambivalent zurück, dass der Gerichtsmediziner die Rolle der russischen Regierung untersuchen solle, aber erklärte, er habe formale Fehler begangen. Das Gericht bestätigte einen kollateralen Zusammenhang mit dem Tod von Sturgess: "The evidence is that both incidents involved Novichok and the second was a consequence of the first. Indeed, if they were not linked, the case would give rise to even greater public concern than it does already." Auch wenn vier Monate vergangen sind, stelle dies keinen Grund dar, warum die beiden Vorfälle nicht verbunden sein sollen.

Aber es wird auch die vielsagende und überraschende Mutmaßung aufgestellt: "There has been, and (to be realistic) there will be, no criminal trial in which the details of how this appalling event came to occur can be publicly examined." Man kann also nach den Richtern des High Court nicht erwarten, dass die Vorfälle aufgeklärt werden (zu dem Urteil des High Court siehe auch den Bericht von John Helmer).

Das Gericht meint auch, dass eine Untersuchung der Verbindung von Skripal mit den britischen und anderen Geheimdiensten nicht erforderlich sei. Dem stimmt auch der Anwalt Sir James Eadie zu, der das britische Innenministerium vertrat. Er schloss ebenfalls aus, dass Sturgess Ziel eines Angriffs war: "Sie scheint das tragische und zufällige Opfer zu sein, das am 30. Juni in Kontakt mit dem Nowitschok gekommen ist, das von den Angreifern abgelegt wurde."

Und er gab dem Gerichtsmediziner Recht, nicht Russlands Verantwortlichkeit ermitteln zu wollen. Er müsse daher auch nicht ermitteln, wie Sturgess zu Tode kam, sondern nur mit welchen Mitteln. Vermuten könnte man das Bestreben der britischen Regierung, die gerichtsmedizinische Untersuchung so einzugrenzen, dass sie nicht die strafrechtlichen Ergebnisse des Skripal-Anschlags unterminieren kann. Unwahrscheinlicher ist, dass die Regierung eine Verschärfung des Konflikts mit Moskau vermeiden will. Allerdings hat der nach langer Verzögerung kürzlich veröffentlichte Bericht des Geheimdienstausschusses ergeben, dass die Geheimdienste keine Beweise für die Einmischung Russlands in das Brexit-Referendum haben oder vorlegen wollen.

Offenbar will man in Großbritannien den zunächst politisch als Chemiewaffenangriff auf Großbritannien aufgeblähten Skripal-Fall mangels gerichtsfesten Beweisen einschlafen lassen. Erreicht wurde, Russland als Täter dazustellen, ob andere Geheimdienste oder die russische Kriminellenszene, die sich auch in Großbritannien festgesetzt hat, eine Rolle gespielt haben, bleibt außen vor und interessiert nicht. Die Richter des High Court machten auch klar, dass es realistisch keinen strafrechtlichen Prozess gegen diejenigen geben werde, die für den Angriff verantwortlich waren.

Es dürfte dieser Grund sein, warum sie den Anschlag in Salisbury und die Parfümflasche in Amesbury in einem Zusammenhang für die gerichtsmedizinische Untersuchung belassen wollen, auch wenn es über das Nowitschok hinaus, das nicht identisch sein muss, keine Verbindung gibt. Ein "Kollateralschaden", wie der oberste Gerichtsmediziner erklärt hatte, sei kein hinreichender Grund, die Handlungen anderer russischer Agenten als die beiden Beschuldigten auszuschließen. Dumm nur, dass es keine Beweise für eine Verbindung der beiden Vorfälle über Hypothesen hinaus gibt.

Der High Court gab die Entscheidung über das Ausmaß der Untersuchung letztlich an den obersten Gerichtsmediziner zurück, der seine Ermittlungen zwar etwas erweitern soll, aber nicht so weit, wie dies im Fall Litvinenko geschehen ist, wo auch die berufliche Laufbahn und die Geheimdienstverbindungen untersucht wurden. So kann dieser ebenfalls weiter ausschließen, den Fall und die Beweislage zu untersuchen, also beispielsweise die Skripals als Zeugen zu benennen oder die übrigen "Beweise" zu überprüfen, mit denen die Beschuldigten angeblich überführt wurden.