Menschenrechtsverletzungen der Türkei: EU bleibt still?

Kämpfer der Syrischen Nationalarmee im Konvoi von Azez nach Akçakale, zum "Temporary Accommodation Center", 12 Oktober 2019. Bild: Orhan Erkılıç/VoA/gemeinfrei

Die Liste der Vorwürfe gegen die Türkei und ihre Söldnertruppen in einem UN-Bericht ist lang, die Beweise sind erdrückend

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Derzeit sieht es nach Informationen der griechischen Zeitung Ekathimerini danach aus, dass das Europäische Parlament von Sanktionen gegen die Türkei absehen wird. Grund ist demnach die Bereitschaft zu Gesprächen zwischen der Türkei und Griechenland. Zypern jedoch bleibt bei seiner Forderung nach einer härteren Gangart gegen die Türkei und verbindet dies mit einem Veto gegen EU-Sanktionen gegen Belarus.

Begleitend zum türkischen Säbelrasseln im Mittelmeer und dem Zögern der EU, gegenüber der Türkei Entschlossenheit zu signalisieren, wirft ein kürzlich veröffentlichter UN-Bericht der Türkei und ihren islamistischen Söldnern schwere Menschenrechts- und Kriegsverbrechen in Nordsyrien vor.

Seit Jahren schweigt Europa zu den schweren Menschenrechtsverletzungen in Nordsyrien durch die türkische Armee und ihre Söldnertruppen von der Syrischen Nationalarmee (SNA). In Deutschland gab es immer wieder Anfragen im Bundestag zum Thema. Die Bundesregierung wollte von den Vorwürfen entweder keine Kenntnis haben oder sie relativierte die Vorwürfe in ihren Antworten - trotz einschlägiger Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung.

Nun sollten sich die Bundesregierung und das Europaparlament nicht mehr hinter Ausflüchten verstecken. Die Liste der Vorwürfe gegen die Türkei und ihre Söldnertruppen im UN-Bericht ist lang, die Beweise erdrückend.

Koordinierte Plünderungen und Vertreibungen

Auch deutsche Medien, wie etwa der Spiegel, berichteten über das UN-Dokument, wo beschrieben wird, dass überwiegend kurdische Familien beraubt und aus ihren Häusern vertrieben wurden - teilweise unter Aufsicht türkischer Militärs. Der UN-Bericht listet Beispiele von "koordinierten Plünderungen" in Afrin und Serekaniye (Ras al-Ain) auf:

"Nachdem das Eigentum geplündert worden war, besetzten Kämpfer der Syrischen Nationalarmee und ihre Familien Häuser, aus denen Zivilisten geflohen waren, oder zwangen Bewohner, vor allem kurdischer Herkunft, durch Drohungen, Erpressung, Mord, Entführung, Folter und Inhaftierung zur Flucht aus ihren Häusern."

Ein Rückkehrer in das Dorf Tel al-Arisha soll sein Haus geplündert vorgefunden haben: "Alles war geraubt worden, einschließlich der Fenster, Türen und Generatoren. In anderen Häusern in der Straße, war das Gleiche passiert. Ein hochrangiges Mitglied der Division 24 (Sultan-Murad-Brigade) der Syrischen Nationalarmee verkaufte ihm seinen eigenen Hausrat aus einem Lagerhaus, das als Aufbewahrungsort für geraubte Güter diente, zurück. Er [Der Rückkehrer] floh unmittelbar danach."

In einem Dorf bei Afrin besuchte die SNA im September 2019 jedes Haus und forderten kurdische Familien mit weniger als drei Mitglieder auf, ihre Häuser zu räumen, um "Personen von außerhalb" unterzubringen. Hierbei wird es sich mutmaßlich um Angehörige der Dschihadisten aus Ost-Ghouta und Idlib handeln.

Wenn die Familien ihre Häuser nicht räumen mussten, wurde eine "Steuer" in Höhe von 10.000 bis 25.000 Lira erhoben. Auch über Entführungen und Lösegeld-Erpressungen wird berichtet. Die UN-Kommission "ist nach wie vor besorgt über den weit verbreiteten und immer wiederkehrenden Einsatz von Geiselnahmen durch die Streitkräfte der Syrischen Nationalarmee", wie in dem Bericht zu lesen ist.

Nicht nur Angehörige der Dschihadisten wurden in den beschlagnahmten Häusern einquartiert, auch türkische sogenannte Hilfsorganisationen wie die Stiftung für Menschenrechte, Freiheit und Humanitäre Hilfe (IHH) hielten Einzug in die Häuser. Im UN-Bericht heißt es, die IHH sei in Serekaniye in ein Haus einer vertriebenen kurdischen Familie eingezogen und hätte dort eine Koranschule eingerichtet, die am 22. Juni 2020 feierlich vom Gouverneur Abdallah Erin der türkischen Provinz Urfa eröffnet wurde.

Das von der Türkei quasi annektierte Gebiet um die nordsyrische Stadt Serekaniye wurde an die türkische Provinzialverwaltung von Urfa angeschlossen. Eine nach Deutschland geflüchtete syrisch-kurdische Familie erkennt in den veröffentlichten Bildern über die Eröffnung der Koranschule ihr ehemaliges Zuhause wieder, aus dem sie vertrieben wurde.

Verhaftungen und Folter

Kritik am Gebaren der Söldner und des türkischen Militärs führt in der Regel zu Verhaftungen und Folter. Im UN-Bericht ist über gemeinsame Verhaftungsaktionen von türkischer Polizei und SNA in Afrin zu lesen. In der Regel wird den Verhafteten vorgeworfen, mit der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zusammengearbeitet zu haben. Die UN berichten von Vernehmungen durch türkische Beamte. Andere Kritiker werden in die Türkei verschleppt und dort nach türkischem Recht wegen "Terrordelikten" angeklagt. Die Kommission sieht darin möglicherweise "ein Kriegsverbrechen in Form der Deportation geschützter Personen".

Sie sieht in den Überstellungen der durch die SNA Inhaftierten in die Türkei einen weiteren "Hinweis auf die Zusammenarbeit und gemeinsame Operationen zwischen der Türkei und der Syrischen Nationalarmee zum Zwecke der Inhaftierung und der Sammlung von Informationen. Die Kommission untersucht weiterhin das genaue Ausmaß, in dem verschiedene Brigaden der Syrischen Nationalarmee und die türkischen Streitkräfte eine gemeinsame Befehls- und Kontrollhierarchie gebildet haben, und stellt fest, dass, wenn sich herausstellt, dass Mitglieder einer bewaffneten Gruppe unter der wirksamen Befehls- und Kontrollgewalt der türkischen Streitkräfte handeln, Verletzungen durch diese Akteure eine strafrechtliche Verantwortung für die Befehlshaber nach sich ziehen können, die von den Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen oder die es versäumt haben, alle notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Verhinderung oder Unterdrückung ihrer Begehung zu ergreifen".

Auch Folter und sexualisierte Gewalt werden in dem Bericht aufgelistet:

"In Haft wurden Zivilisten - vor allem kurdischer Herkunft - geschlagen, gefoltert, ihnen wurde Nahrung oder Wasser verweigert und sie wurden über ihren Glauben und ihre ethnische Zugehörigkeit verhört."

Geschildert wird der Fall eines Jungen, der Mitte 2019 in Afrin inhaftiert und in Anwesenheit eines türkischen Militärs gefoltert wurde. Nach seiner Freilassung im März 2020 soll er berichtet haben, dass ihm die Augen verbunden wurden, er mit Handschellen an den Händen gefesselt und an der Decke aufgehängt und mit Plastikschläuchen geschlagen wurde.

Sexualisierte Gewalt werde systematisch angewendet:

"Während des Berichtszeitraums wurden Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen und Männer in einer Haftanstalt in Afrin dokumentiert. Bei zwei Gelegenheiten zwangen Offiziere der Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee in einem offensichtlichen Versuch, männliche Häftlinge zu demütigen, ihnen Geständnisse zu entlocken und ihnen Angst einzujagen, dazu, der Vergewaltigung einer Minderjährigen beizuwohnen. Am ersten Tag wurde die Minderjährige damit bedroht, vor den Augen der Männer vergewaltigt zu werden, aber die Vergewaltigung fand nicht statt. Am folgenden Tag wurde dieselbe Minderjährige in einer Gruppenvergewaltigung vergewaltigt, wobei die männlichen Häftlinge geschlagen und gezwungen wurden, bei einer Tat zuzusehen, die einer Folter gleichkommt."

Jesidische Frauen werden zur Konversion zum Islam gezwungen. Gegenwärtig untersucht die UN-Kommission den Fall von 49 kurdisch-ezidischen Frauen in Serekaniye, die zwischen November 2019 und Juli 2020 durch die SNA verschleppt wurden.

Als Besatzungsmacht in den nordsyrischen Gebieten Afrin und Serekaniye hat die Türkei nach Auffassung der UN-Kommission gegen ihre Verantwortung, die Rechte der Bevölkerung in diesen Regionen zu schützen, verstoßen:

In diesem Zusammenhang nimmt die Kommission die Berichte zur Kenntnis, dass die türkischen Streitkräfte Kenntnis von Vorfällen der Plünderung und Aneignung zivilen Eigentums hatten und dass sie sich in Haftanstalten der syrischen Nationalarmee aufhielten, in denen die Misshandlung von Gefangenen grassiert. Dies gilt auch für die Verhöre, bei denen Folterungen stattfanden. Da die türkischen Streitkräfte in diesen Fällen nicht eingegriffen haben, haben sie möglicherweise gegen die oben genannten Verpflichtungen der Türkei verstoßen.

Punkt 68, UN-Bericht

Zum ersten Mal wird damit schriftlich festhalten, dass die UN-Kommission der Türkei als Besatzungsmacht in Syrien betrachtet. Dadurch ist die Türkei verpflichtet, sich an die völkerrechtlichen Verpflichtungen zu halten (siehe dazu die Genfer Konventionen).

Verstöße gegen das Völkerrecht

Die UN wirft der SNA vor, Weltkulturerbe zerstört und geplündert zu haben. Aus der hellenistischen Stätte von Kyrrhos sowie aus dem hethitischen Ain-Dara-Tempel wurden kostbare Mosaike gestohlen. Der Spiegel berichtet über Satellitenaufnahmen, die nahelegen, dass beide Stätten 2019 und 2020 mit Bulldozern planiert wurden. Darüber hinaus wurden mehrere jesidische Schreine und Gräber geplündert und zerstört.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell beobachtet die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei mit Sorge, denn die Türkei "rücke immer weiter ab von Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten der EU". Am Donnerstag letzter Woche verabschiedete das Europaparlament eine Resolution, in der die Türkei nachdrücklich aufgefordert wird, ihre illegalen Explorations- und Bohraktivitäten im östlichen Mittelmeer einzustellen und forderte zudem den Europäischen Rat auf, Sanktionen zielgerichtet gegen bestimmte Sektoren der türkischen Wirtschaft zu verhängen. Die Resolution wurde mit großer Mehrheit mit 601 Ja-Stimmen, 57 Nein-Stimmen und 36 Enthaltungen angenommen.

Der UN-Bericht zu Nordsyrien müsste die Position der Türkei weiter schwächen. Es ist zu hoffen, dass dieser Bericht nicht wieder in den Schubladen der Europa-Parlamentarier verschwindet und dass die EU in Sachen Nordsyrien endlich tätig wird. Angesichts der Corona-Pandemie verschlechtert sich die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung in Nordsyrien dramatisch dadurch, dass die Türkei wiederholt die Wasserversorgung durch das Wasserwerk Allouk bei Serekaniye unterbrochen hat.