Sachbücher des Monats: November 2020

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Hans-Ulrich Gumbrecht
"Prosa der Welt"
Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung

Philosoph und Übersetzer, Kritiker und Schriftsteller, Kunstagent und Enzyklopädist: Denis Diderot, 1713 in der Champagne geboren, 1784 in Paris gestorben, war eine der prägenden Figuren jener Bewegung, die als europäische Aufklärung in die Geschichte eingegangen ist. Doch was ist der Fluchtpunkt seines vielgestaltigen Œuvre, das anders als die Werke seiner Zeitgenossen Voltaire und Rousseau, Schiller, Kant und Hume von einer geradezu zentrifugalen Dynamik gekennzeichnet ist? Entlang von Szenen aus Diderots Leben und in Lektüren seiner Schlüsselwerke geht Hans Ulrich Gumbrecht dieser Frage nach und entwickelt einen neuen Zugang zu Diderot. Als Kontrastfolie dient ihm dabei das Systemdenken Hegels, der von Diderots Texten ebenso irritiert wie fasziniert war und sie unter den Begriff einer "Prosa der Welt" brachte. Gumbrecht zeigt, wie radikal sich Diderot auf die Konkretheiten und Kontingenzen der Welt eingelassen hat und dadurch ins Zentrum einer intellektuellen Peripherie gelangt ist, in die es noch andere zog: Goya zum Beispiel, aber auch Lichtenberg und Mozart.
Übersetzt von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, 400 Seiten, € 36,00
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Michael J. Sandel
Vom Ende des Gemeinwohls
Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt

Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg - und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra "Wer hart arbeitet, kann alles erreichen" haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sich angestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind. Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt.
Übersetzt von Helmut Reuter.
S. Fischer Verlag, 442 Seiten, € 25,00
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Branko Milanović
Kapitalismus global
Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht

Zum ersten Mal in der Geschichte dominiert ein einziges Wirtschaftssystem den Globus. Von Peking bis Porto Alegre: Ob es uns gefällt oder nicht, heute sind wir alle Kapitalisten. Das Mantra der Alternativlosigkeit gehört längst zum rhetorischen Standardrepertoire von Politikern jeder Couleur. Warum konnte sich der Kapitalismus gegen den Kommunismus durchsetzen? Wie steht es um die Aussichten auf eine gerechtere Welt, nun, da seine Vorherrschaft ohne Konkurrenz ist? Spätestens seit der Finanzkrise zeichnet sich ab, dass zwei Ausprägungen im Wettstreit miteinander liegen: ein liberaler Kapitalismus, der mit rechtsstaatlichen Prinzipien und Demokratie einhergeht, und ein autoritärer, in dem Vetternwirtschaft und politische Willkür an der Tagesordnung sind. Wenn es nicht gelingt, so Milanović, Herausforderungen und Probleme wie Ungleichheit, Migration oder Korruption zu meistern, ist nicht nur die liberale Wirtschaftsordnung, sondern auch die Demokratie in Gefahr.
Übersetzt von Stephan Gebauer.
Suhrkamp Verlag, 404 Seiten, € 26,00
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Wolfgang Ullrich
Feindbild werden
Ein Bericht

Wie politisch ist Kunst heute und wie steht es um ihre oft beschworene Autonomie? Wolfgang Ullrich stellt Fragen an die Gegenwartskunst und ihre Vermarktung, die über das rein Ästhetische hinausgehen. Damit hat er 2019 eine weitreichende Debatte provoziert: Dem in der ZEIT formulierten Vorwurf, Neo Rauch und andere in der DDR groß gewordene Maler würden unter Verweis auf die Freiheit der Kunst vermehrt rechte Positionen einnehmen, begegnete der Künstler mit dem großformatigen Bild "Der Anbräuner". In den Feuilletons und im Netz folgte Entrüstung. Wieso kam es zu solch heftigen Reaktionen? Wolfgang Ullrich tritt einen Schritt zurück und stellt fest, dass es ( jenseits dieses Falls) um grundsätzliche Konfliktlinien geht: Vordergründig um das Verhältnis zwischen Künstler und Kritiker. Dann um die offenbar wachsende Spannung zwischen Ost- und Westdeutschland. Und am Ende um den alten neuen Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Heimat mit festen Grenzen und dem Wunsch nach Offenheit und Pluralismus.
Wagenbach Verlag, 160 Seiten, € 10,00
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Magnus Brechtken
Der Wert der Geschichte
10 Lektionen für die Gegenwart

Magnus Brechtken zeigt in einer Tour durch die Geschichte an zehn Beispielen, wie hart die Werte von Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe erkämpft wurden, wie sehr sie das Leben der Menschen verbessert haben - und warum diese Errungenschaften heute auf dem Spiel stehen, durch Nationalisten und Populisten von rechts wie links. Wieviel Freiheit und welche Rechte hatte ein Bürger vor 150 Jahren? Wie selbstbestimmt war das Leben einer jungen Frau um 1900? Welche Autoritäten prägten die Existenz der Menschen damals? Wie demokratisch war die Gesellschaft? Und wo stehen wir bei all dem heute?
Siedler Verlag, 304 Seiten, € 20,00
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Uta Ruge
Bauern, Land
Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang

Ein Dorf im Moor in den 50er Jahren, ein Bauernhof heute und wie das Weltgeschehen das Leben der Menschen auf dem Land veränderte. Uta Ruge erzählt die Erinnerung an das Leben auf dem Lande in den 50er Jahren mit der genauen Beobachtung der Veränderungen in der Landwirtschaft heute, mit der Chronik des Dorfes, den welthistorischen Zusammenhängen und der Kulturgeschichte, die das Leben der Bauern geprägt haben und prägen. Sie erzählt von harter Arbeit und Abhängigkeit, von der Besiedelung des Moors, von Entwässerung und den Zumutungen der Obrigkeit und der Bürokratie, von Armut und Auswanderung. Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.
Verlag Antje Kunstmann, 350 Seiten, € 28,00
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Ulrich Weber
Friedrich Dürrenmatt
Eine Biographie

Ulrich Weber erzählt vom kometenhaften Aufstieg des Pfarrerssohns aus dem Emmental zum weltberühmten Autor mit Millionenauflagen und von den vielen kleinen und großen Brüchen in seinem Leben, die ihn zwangen, sich immer wieder neu zu erfinden. Bislang unzugängliche Dokumente erlauben einen ganz neuen Blick auf den privaten Dürrenmatt.
Diogenes Verlag, 752 Seiten, € 28,00
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Pierre Rosanvallon
Das Jahrhundert des Populismus
Geschichte, Theorie, Kritik.

Pierre Rosanvallon entwirft eine bisher noch fehlende kohärente Theorie des Populismus. Er untersucht seine Attraktivität als Lösung für gegenwärtige Probleme, entfaltet seine Geschichte und unterzieht ihn einer gründlichen Kritik. Daraus resultierend skizziert er einen Alternativvorschlag für eine verallgemeinerte Volkssouveränität, die die Demokratie bereichert, anstatt sie zu vereinfachen und zu polarisieren: eine vitale Demokratie, die sich ständig selbst be- und hinterfragt. Denn nur durch permanente Anstrengung und Transparenz kann das populistische Projekt seine Attraktivität verlieren.
Übersetzt von Michael Halfbrodt.
Hamburger Edition, 300 Seiten, € 35,00
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Jonathan Lear
Radikale Hoffnung
Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung

Kurz vor seinem Tod erzählte Plenty Coups, der letzte große Häuptling der Crow, seine Geschichte - bis zu einem gewissen Punkt: "Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen." Diese verstörende Äußerung über ein Volk, das vor dem Ende seiner Lebensweise steht, ist Ausgangspunkt für Jonathan Lears philosophische Untersuchung. Ihm zufolge wirft die Geschichte von Plenty Coups eine tiefgreifende ethische Frage auf, die uns alle angeht: Wie sollen wir mit der Möglichkeit umgehen, dass unsere eigene Kultur zusammenbrechen könnte, wie mit dieser Verwundbarkeit leben? Ist es sinnvoll, sich einer solchen Herausforderung mutig zu stellen?
Übersetzt von Jens Pier.
Suhrkamp Verlag, 236 Seiten, € 23,99
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Linda Scott
Das weibliche Kapital

Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich gehört zu den drängendsten Problemen der internationalen Politik. Die Suche nach Lösungen wird stetig intensiviert - und hat doch einen blinden Fleck: die Rolle der Frauen. "Das weibliche Kapital" liefert die wissenschaftlichen Grundlagen für den entscheidenden nächsten Schritt. Linda Scott zeigt, dass die Gleichstellung der Geschlechter kein Luxusprojekt des reichen Westens ist, sondern der aussichtsreichste Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Damit schließt sie eine Lücke, die die großen Entwürfe von Thomas Piketty und Jeffrey Sachs in den vergangenen Jahren offen gelassen haben. Gleichberechtigung ist kein Luxusprojekt, sondern Grundlage unseres Wohlstandes.
Übersetzt von Stephanie Singh.
Carl Hanser Verlag, 412 Seiten, € 26,00
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Besondere Empfehlung des Monats November Prof. Dr. Matthias Bormuth (Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte, Uni Oldenburg):

Nadeschda Mandelstam
Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe

Nadeschda Mandelstam blickt auf Jahrzehnte zurück, von denen ihr Mann, der große Lyriker Ossip Mandelstam, in einem seiner Gedichte als Jahrhundert der Wölfe spricht. Ihr Erinnerungsbuch ist eine nachgetragene Liebesgeschichte und das Porträt einer Epoche, in der 1938 ihr Mann in den Lagern verschwand und umkam. Als Nadeschda Mandelstams Erinnerungsbuch 1970 in einem russischen Verlag in den USA erschien, kam das einer Sensation gleich. Mit der Publikation des aus der Sowjetunion ins westliche Ausland geschmuggelten Manuskripts begann die Wiederentdeckung von Ossip Mandelstam. Anders als Wassili Grossman oder Alexander Solschenizyn, die ihre Berichte aus den Abgründen der Sowjetunion im Hinblick auf eine Publikation dort verfassten, schrieb die Dichterwitwe ihre Erinnerungen für sich selbst und spätere Generationen, ohne die Möglichkeit einer Veröffentlichung auch nur in Erwägung zu ziehen. Das Erbe ihres Mannes, sein lyrisches Werk, bewahrte Nadeschda Mandelstam lange Jahre nur im Gedächtnis, ehe sie es Freunden diktieren konnte.

Ein anderer Report über das Böse, das Stalin in die Welt brachte, ist zu entdecken, zugleich als Zeugnis, wie Leidenschaft und Geist ubiquitärer Ohnmacht begegnen können. Das mutige Leben, das Ossip Mandelstam als Dichter bis zum frühen Tod im Lager führte, hebt seine Frau Nadeschda ebenso in ihren Erinnerungen auf wie das labyrinthische Nachleben seiner Gedichte. Die kommentierte Neuübersetzung funkelt in klassischer Klarheit und ist auch literarisch ein erstrangiges Dokument der jüngsten Zeitgeschichte
Matthias Bormuth

Aus dem Russischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ursula Keller.
Die andere Bibliothek, 550 Seiten, € 44,00
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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hö-risch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel. Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Michael Wiederstein, getAbstract, Luzern; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Schweiz

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