Frankreich: Corona und Terror

Bild: Louis Pellissier/unsplash

Ein neuer Lockdown trotz gegenteiliger Versprechungen, Terror-Morde in Nizza, eine Messerattacke im Generalkonsulat in Dschidda, Proteste in muslimischen Ländern gegen die Mohammed-Karikaturen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die französische Regierung hat mit einer ganzen Reihe von Erschütterungen zu tun. Während der Premierminister Jean Castex heute Morgen die Maßnahmen zum neuen Lockdown verkündete, wurde er von der Meldung eines Attentats in Nizza überrascht.

Mittags wurde von drei Toten berichtet, zwei Frauen und ein Mann, die Opfer einer brutalen Messerattacke in der Basilika Notre-Dame wurden. Mehrere Personen wurden verletzt, wie schwer deren Verletzungen sind, ist noch nicht klar. Der genaue Hergang wird erst ermittelt. Der verdächtige Haupttäter wurde von Polizisten angeschossen und ins Krankenhaus gebracht, er soll sich in einem kritischen Zustand befinden.

Die Staatsanwaltschaft für terroristische Verbrechen wurde eingeschaltet. Das Muster der Tat spricht für einen Terrorakt. Laut Augenzeugen soll der Mann "Allahu Akbar" gerufen haben. Der Täter hat versucht, zwei seiner Opfer zu köpfen. Eine Frau rettete sich mit schwersten Verletzungen in ein nahegelegenes Café. Ärztliche Hilfe kam jedoch zu spät. Über den Täter ist zur Stunde noch nichts bekannt.

Mohammed-Karikaturen: Aufruf zu Attentaten

Die blutige Tat wird in den Zusammenhang mit Aufrufen zu Attentaten gebracht, die von dschihadistischen Vereinigungen, darunter angeblich auch al-Qaida, erfolgten, nachdem Präsident Macron bekräftigt hatte, dass die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen weitergehe. Gestern hatte die neue Ausgabe von Charlie Hebdo mit einer Karikatur des türkischen Präsidenten Erdogan auf dem Titel für deftige Reaktionen aus der türkischen Regierung gesorgt und Empörung unter Türken in Frankreich.

Das Eintreten für die Freiheit, die Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen, hat nicht nur zu Boykotterklärungen in mehrerer arabischen Länder sowie in Iran, wo Macron in manchen Presseaufmachungen sehr schlecht wegkommt geführt. In der Türkei, machte sich Erdogan für einen Boykott stark. Es gab Proteste nicht nur wie üblich, wenn es um Mohammed-Karikaturen geht, in Pakistan und Bangladesch, sondern auch in palästinensischen Gebieten und in Syrien.

So wird von Protesten in Rakka berichtet, in der Provinz Hassaka und in weiteren Gebieten unter Kontrolle der kurdischen YPG-Kräfte, die von der französischen Regierung unterstützt werden. Es soll zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen sein, dabei wurden Schüsse auf die Demonstranten abgegeben.

Viel beachtet wurde die Reaktion des saudi-arabischen Rats der Gelehrten (englisch: Senior Ulema Council). Dort gab man sich deeskalierend in der Erklärung zu den Mohammed- Karikaturen. Muslime sollten sich davon nicht aufwiegeln lassen, so die Botschaft. Sie seien nicht ernst zu nehmen. "Das Beleidigen von Propheten und Botschaftern wird sie niemals verletzen, dient aber nur den Extremisten, die Hassaufrufe unter den Gemeinschaften verbreiten wollen".

Doch stößt diese Lehrmeinung offensichtlich nicht bei jedem auf Gehör und Gefolgschaft. So wurde heute eine Messerattacke auf einen Angestellten des Sicherheitsdienstes für das französische Generalkonsulat in Dschidda gemeldet.

Zur Serie an aufgebrachten Reaktionen außerhalb Frankreichs kommen Konflikte innerhalb des Landes hinzu, die auf auswärtige Konflikte aufbauen. In Lyon wurde gestern ein größeres Polizeiaufgebot eingesetzt, damit ein Aufeinandertreffen von Unterstützern der türkischen Grauen Wölfe und Armeniern nicht eskaliert.

"Metro, bulot, dodo", Empörung und Existenzängste

Die große nationale Krise, mit der die Regierung augenblicklich beschäftigt ist, besteht darin, den neuen Lockdown an eine Bevölkerung zu vermitteln, bei der sich zunehmend Skepsis gegen die Maßnahmen äußert wie auch Empörung, Wut und Niedergeschlagenheit. Die Verschärfung der Maßnahmen, die zunächst auf mindestens 15 Tage ausgelegt sein sollen, wahrscheinlich aber mindestens bis Ende November andauern, treffen die kleinen Geschäfte, Freiberufler und die Gastronomie in einer Weise, dass viele um ihre Existenz fürchten.

"Der Humus ist explosiv", war heute Morgen in der "gemäßigt linke Mitte"-Zeitung Le Monde zu den Maßnahmen zu lesen:

Man muss auf die Wut der Freiberufler und der kleinen Händler aufpassen, die stark unter der Situation leiden. Sie haben alles dafür getan, um (nach dem ersten Lockdown, Anm. d. A.) wieder öffnen zu können und jetzt zwingt man sie dazu, wieder zu schließen. Sie befürchten, dass man ihnen Steine in den Weg legt zugunsten der Einzelhandelsriesen, was das Weihnachtsgeschäft angeht. Das ist der Grund, weshalb Macron verstehen ließ, dass es für sie schon nach 15 Tagen Erleichterungen geben könnte.

Françoise Fressoz

"Metro, bulot, dodo" ("U-Bahn, arbeiten und schlafen") heißt die Kurzformel, die schon seit einiger Zeit verbreitet ist und die Auswirkung der Regierungsmaßnahmen auf große Teile der Bevölkerung charakterisiert. Es deutet sich an, dass es Gegenreaktionen geben wird.

Als die Regierung in Paris am Ende des Sommers über die Bürgermeisterin von Marseille hinweg beschloss, dass die Restaurants, Cafés und Bars im Küstenort wieder früher schließen müssen, und sie damit drohte, dass sie ganz schließen müssten -was nun der Fall ist -, zeigte sich ähnlich wie in Aix-en Provence und anderen Orten im Süden, eine Welle der Empörung.

Wer lokale Zeitungen las, stellte fest, dass sich die aufgebrachten Kommentare häuften und sie mehr und mehr Vorwürfe brachten, die aus dem Repertoire der sogenannten "Corona-Leugner" in Deutschland bekannt sind, die aber in Frankreich bis dato in der öffentlichen Auseinandersetzung weniger prominent waren.

Zusammen mit der Entrüstung der genannten offiziell als nicht system-relevant herabgestuften - "kleineren" Geschäftsleuten, Freiberuflern, Geringverdienern könnte sich dies zu einer Bewegung auswachsen, die Macron Schwierigkeiten bereiten kann, zumal sich Teile der Gelbwesten (die sehr unterschiedlich zusammengesetzt sind) schon länger gegen die Corona-Maßnahmen positionieren.

Von einer nationalen Einheit, die Macron immer wieder beschwört, kann nicht die Rede sein; sie hat es in der Corona-Krise nicht gegeben. Wie die Diskussion über die Masken, bei der die Regierung einen 180°-Kurswechsel machte (erst wurden sie sogar als schädlich bewertet, dann als notwendig sogar auf den Straßen), offenlegte, ist die Glaubwürdigkeit der Regierung sehr angekratzt.

Gesundheitsminister Véran: "Eine Million Infizierte"

Im Vergleich zu Deutschland sind die Zahlen der positiv getesteten Infizierten um einiges höher, kürzlich wurden über 50.000 an einem Tag neu hinzugekommene gemeldet. Gestern waren es offiziell 36.437. Der französische Gesundheitsminister Olivier Véran legte dann noch einen großen Packen dazu. Er äußerte, dass es "wahrscheinlich eine Million sind".

Politische Taktik à la Trump? Es gab in den letzten Wochen eine ganze Menge an Nachrichten aus verschiedenen Krankenhäusern, wonach die Belastungsgrenze bald erreicht würde. Seit gestern soll offiziellen Angaben folgend die Hälfte der aktuellen Kapazitäten der Intensivstationen, die für Covid-19-Fälle reserviert sind, belegt sein. Seit Dienstag seien 2.821 mit dem Corona-Virus Infizierte ins Krankenhaus gebracht worden. Insgesamt sollen sich gegenwärtig 20.184 mit Sars-CoV-2-Infizierte in den französischen Krankenhäusern aufhalten.

Welche Wirklichkeit hinter diesen Zahlen steckt, vermag der Autor dieses Beitrags nicht zu sagen. Offensichtlich war aber seit Ende August ein Trend, der deutlich von einem Anstieg wichtiger Zahlen, die mit dem Corona-Virus zu tun haben, kündete, wenn auch, was die Krankenhauseinlieferungen betrifft, in einem weitaus weniger sensationellen Ausmaß als bei den Infektionen. Es stieg auch der Anteil der Infizierten im Verhältnis zu den Tests (das Thema "falsch-positiv Getestete" bekommt erst seit Kurzem mehr Aufmerksamkeit in den französischen Medien).

Dass es Grund zur Beunruhigung gab, drängte sich von Woche zu Woche mehr auf. Lange Zeit hielt das Versprechen Macrons, wonach es auf gar keinen Fall einen neuen Lockdown geben würde. Das ist eine Niederlage.

Dass die Franzosen nun ab Mitternacht von Donnerstag auf Freitag ihre Wohnung nur mehr hauptsächlich zum Arbeiten und Einkaufen verlassen dürfen, dass außer den großen "systemrelevanten" Geschäften alle anderen - mit Ausnahme der Lebensmittelgeschäfte - schließen müssen, bestärkt das schlechte Image Macrons ("Präsident der Privilegierten").

"Sie können ihre Wohnung nur aus bestimmten Gründen und mit einer Bescheinigung verlassen: Sie können einkaufen gehen, zu ihrer Arbeitsstelle fahren und nach Hause zurückkehren oder aus medizinischen Gründen, aus wichtigen familiären Gründen, wenn sie vor Gericht oder zu einer Behörde müssen, für Fahrten aus einem generellen Interesse oder für eine Stunde, wenn sie sich bewegen wollen oder Haustiere ausführen - dies ist aber nur in einem Umkreis von 1 Kilometer Abstand zu Ihrer Wohnung möglich. Fitnessstudios und Sportstätten bleiben geschlossen", präzisierte Premierminister Jean Castex am Donnerstagabend.