Für die Bewohner, gegen Schießereien: Melde-Apps helfen in Rio de Janeiro

Wer in brasilianischen Städten unterwegs ist, muss oft auf der Hut sein. Dabei könnten jetzt Smartphones helfen – und zugleich Datenlücken schließen.

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Favela in Rio.

(Bild: Photo by Nayani Teixeira on Unsplash)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Raphael Tsavkko Garcia
Inhaltsverzeichnis

Bei der Feier zum zwölften Geburtstag ihrer Cousine stand Julia Borges auf einem Balkon im dritten Stock, als sie von einem Querschläger im Rücken getroffen wurde. Die Kugel blieb im Muskel zwischen der Lunge der 17-Jährigen und der Aorta stecken. Nach dem Vorfall Anfang November wurde sie in ein Krankenhaus gebracht und hat sich seitdem erholt. Aber vielen anderen in derselben Stadt ergeht es schlechter: Mindestens 106 Menschen wurden in Rio de Janeiro in diesem Jahr bislang von Querschlägern getötet.

Zu den gefährlichsten Gebieten gehören die engen Straßen um die Favelas der Stadt, in denen mehr als eine Million Menschen leben. Die Häuser hier werden übereinander gebaut, und auf den Wegen zwischen ihnen liegen viele kleine Plätze. Fast täglich hallt durch diese Gassen das Echo von Schüssen – Gefechte mit Polizisten und unter Drogenhändlern, manchmal auch mit Milizen, die von der Polizei unterstützt werden.

Häufig geraten Unschuldige zwischen die Fronten. Um sich vor Querschlägern zu schützen, müssen sie sich auf den Boden legen oder Barrikaden bauen, während sie auf das Schweigen der Waffen warten. Im Jahr 2019 gab es in Rio im Durchschnitt täglich 20 Schießereien. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Lage ruhiger geworden, doch bis Ende Juni waren es immer noch 14 am Tag. Pro Jahr sterben in der Region um Rio etwa 1500 Menschen an Schussverletzungen.

In Rio zu leben bedeutet, „eine Geisel der Gewalt zu sein“, sagt Rafael Cesar, ein Bewohner des westlich vom Zentrum gelegenen Viertels Cordovil. Wie viele andere hat er begonnen, Sicherheit auch mit Hilfe von Apps zu suchen. Diese basieren auf Crowdsourcing-Initiativen, um Nutzer zu warnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihrerseits Warnmeldungen einzugeben.

Zu den bekannteren Apps dieser Art zählt Fogo Cruzado (Kreuzfeuer), initiiert von der Journalistin Cecilia Olliveira. Für einen Artikel suchte sie Daten über die Opfer von Querschlägern in Rio, die aber nicht vorlagen. Also richtete sie 2016 eine Tabelle bei Google Docs ein, um Informationen über Schießereien zu sammeln – Ort und Zeit, Zahl der Opfer und mehr. Im selben Jahr wurde daraus mit Hilfe von Amnesty International eine App und eine Datenbank, um Beobachtung und Berichterstattung zu bewaffneter Gewalt zu unterstützen. Inzwischen wurde die App mehr als 250.000-mal heruntergeladen und deckt neben Rio auch Recife ab.

Wenn Nutzer einen Schuss hören, können sie das als Ereignis in der App eintragen. Die Informationen werden vom Team von Fogo Cruzado verifiziert und überprüft, unterstützt von Freiwilligen und Aktivisten, und dann in die Plattform geladen. Außerdem gibt es ein Team von vertrauenswürdigen Mitarbeitern, die Informationen direkt veröffentlichen können. Nutzer der App können sich benachrichtigen lassen, wenn sie sich auf einen Bereich zubewegen, der als gefährlich eingestuft ist. Das können Favelas sein, in denen kürzlich geschossen wurde, oder solche, in denen Gangs um die Vorherrschaft kämpfen.

Manche Bewohner nutzen Fogo Cruzado auch für den Weg zur Arbeit oder nach Hause, sagt Olliveira. Dazu zählt der Journalist Bruno de Blasi, der täglich eine Gegend mit häufigen Polizeieinsätzen durchqueren muss. WhatsApp-Gruppen dazu seien voller Gerüchte und Falschmeldungen gewesen, also sei er auf die App umgestiegen, „um unnötige Angst zu vermeiden“, berichtet er.

Wie viele andere in der Stadt hatte auch de Blasi schon eine nahe Begegnung mit einer Schießerei. Er erinnert sich noch daran, wie sie in der Straße ausbrach, in der er wohnt. „Das war ein schreckliches Gefühl. Die Straße galt als eine der sichersten und ruhigsten im Viertel, in dem sich auch das Polizei-Bataillon befindet“, sagt er. „Plötzlich musste ich mich vom Fenster meines eigenen Zimmers fernhalten, um nicht zu riskieren, von einer Kugel getroffen zu werden. Es war sehr angespannt.“

Zusammen mit anderen Organisationen hat Fogo Cruzado außerdem eine neue Karte der bewaffneten Gruppen in Rio de Janeiro zusammengestellt, veröffentlicht im Oktober. Sie soll die Bewohner der Stadt darüber informiert halten, welche Gegend aktuell von kriminellen Gruppen oder Polizei-Milizen beherrscht ist und deshalb weniger sicher sein dürfte.

Auch andere Apps sammeln Daten über Schießereien, aber Fogo Cruzado ist eine der wenigen, die auf Meldungen der Nutzer basiert, sagt Rene Silva. Als Herausgeber der Website Voz das Comunidades berichtet er über den Complexo do Alemao, eine große Favela-Ansammlung in Rio. „Manchmal identifiziert die App Schießereien, die in den Medien nicht erwähnt werden“, sagt er.

Die App Onde Tem Tiroteio ("Wo wird geschossen?") funktioniert ähnlich. Ihren Ausgang nahm sie im Januar 2016 als Facebook-Seite von vier Freunden. Anders als Fogo Cruzado konzentriert sich OTT nicht nur auf die Metropol-Region von Rio, sondern deckt den gesamten Bundesstaat ab, und seit 2018 auch den um Sao Paulo. Ebenfalls anders ist, dass das Netz der Nutzer die Korrektheit von Schießerei-Berichten selbst überprüfen kann.

Nach dem Download der App kann man auswählen, welche Warnungen man erhalten möchte, etwa zu Schießereien, Hochwasser oder Demonstrationen. Jeder anonyme Bericht wird von einem Netzwerk aus mehr als 7000 Freiwilligen überprüft, bevor er in die App geladen wird. Wöchentliche Auswertungen gehen außerdem an die Medien. Im vergangenen Jahr haben mehr als 4,7 Millionen Menschen die App benutzt, sagt Dennis Coli, einer der OTT-Initiatoren. „Die wichtigste Mission von OTT-Brasil ist, alle Bürger von Gang-Straßensperren, falschen Polizei-Operationen und Querschlägern fernzuhalten, mit Informationen, die sehr schnell gesammelt, analysiert und verbreitet werden“, erklärt er.

Und die Apps haben noch einen politischen Aspekt. Sie weisen nicht nur die Bürger von Rio auf Gefahren hin, sondern helfen auch Forschern und öffentlichen Stellen, Gewaltmuster zu verstehen. Und sie können Druck auf Politiker ausüben. „Wichtig ist, dass sie Aufmerksamkeit auf das Problem lenken“, sagt Pablo Ortellado, Politik-Professor an der Universität Sao Paulo. Für ihn haben die Apps „die spezielle, aber entscheidende Funktion, Druck auf die Behörden zu erzeugen“.

Tatsächlich wurde Recife nicht nur wegen ihrer hohen Gewaltzahlen die zweite Stadt, die von Fogo Cruzado erfasst wird, sondern laut Olliveira auch, weil die Regierung keine Daten mehr veröffentlichte und begann, Zensur auszuüben. „Vorher gab es hervorragenden Zugang zu öffentlichen Sicherheitsdaten, aber dann wurden sie immer spärlicher und die Arbeit der Presse immer schwieriger“, sagt sie.

Mit Apps zum Datensammeln lassen sich offizielle Informationen sogar hinterfragen, sagt Yasodara Cordova, Fellow an der Harvard Kennedy School in den USA. Früher habe der Staat ein Monopol darauf gehabt, aber damit sei es vorbei, sagt sie: „Redundante Datenbanken, gesammelt von aktiven Gemeinschaften, sind gesund, denn auf diese Weise lassen sich Daten in Frage stellen, um die Zivilgesellschaft offen zu halten.“ Felipe Luciano, ein OTT-Nutzer aus der Stadt Sao Goncalo nahe Rio, schießt sich dem an: „Entscheidend ist das Vertrauen“, sagt er. „Mich hat die Glaubwürdigkeit der dort gemeldeten Informationen dazu gebracht, OTT zu benutzen. Ich fühle mich sicherer damit.“

(sma)