Nordatlantikpakt entdeckt Pazifik

Karte: TP

Die von einer "Reflexionsgruppe" empfohlene neue NATO-Strategie sieht mit Blick auf China eine engere Zusammenarbeit mit Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea und Indien vor

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Am Dienstag und Mittwoch debattierten die Außenminister der 30 NATO-Mitgliedsländer über Video. Ein Thema der virtuellen Konferenz war der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan nach dem zwischen Donald Trumps Afghanistan-Sondergesandten Zalmay Khalilzad und dem Taliban-Vertreter Mullah Abdul Ghani Baradar geschlossenen Vertrag, in dem die Deobandi-Dschihadisten eine Bekämpfung des IS garantieren und versprechen, sich von ihrem ehemaligen Verbündeten al-Qaida fernzuhalten (vgl. Abkommen in Doha, Wahlchaos in Kabul). Hier scheint man sich darauf geeinigt zu haben, das Thema auf den Februar zu vertagen, wenn der in Washington erwartete Personalwechsel über die Bühne gegangen ist.

138 Handlungsempfehlungen

Ein anderes größeres Thema der Konferenz waren 138 Handlungsempfehlungen, die eine "Reflexionsgruppe" aus dem ehemaligen deutschen Verteidigungsminister Thomas de Maizière, dem ehemaligen US-Europabeauftragten Wess Mitchell, dem ehemaligen französischen Außenminister Hubert Védrine, der ehemaligen polnischen Außenministerin Anna Fotyga und dem ehemaligen türkischen NATO-Botschafter Tacan Ildem nach etwa 200 Konsultationen von Militärs, Bürokraten und Politikern zusammenstellte. Ihr 67-seitiger Bericht mit der Überschrift "Nato 2030 - Vereint für eine neue Ära" soll eine Reaktion auf den im letzten Jahr geäußerten Vorwurf des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron sein, die NATO sei "auf dem Weg zum Hirntod" (vgl. Macron trifft den empfindlichen Nerv der NATO).

Das an die Medien durchgesickerte Papier enthält neben den in der Politik üblichen eher nichtssagenden Gemeinplätzen den Vorschlag, sich vor militärischen Eingriffen gegenseitig zu informieren. Was früher wie eine Selbstverständlichkeit geklungen hätte, liest sich Ende 2020 vor allem wie eine Aufforderung an die Türkei, deren aktuelle Staatsführung sich in den letzten Jahren in immer mehr militärische Abenteuer stürzte.

Çavuşoğlu vs. Pompeo

Der wahrscheinlich scheidende amerikanische Außenminister Mike Pompeo warf seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu den Informationen von in diesem Zusammenhang vor, mit dem Schüren von Spannungen im Mittelmeer andere Verbündete vor den Kopf zu stoßen. Çavuşoğlu reagierte darauf mit dem Vorwurf, die Amerikaner hätten in Syrien kurdische Terroristen unterstützt und zusammen mit den Franzosen den Konflikt in Bergkarabach durch eine Unterstützung der Armenier verschlimmert. Außerdem habe Pompeo andere NATO-Länder dazu gedrängt, im Mittelmeergebietskonflikt eine "Maximalposition" der Griechen zu unterstützen. Der griechische Außenminister Nikos Dendias meinte dazu, die Position seines Landes sei lediglich die, die ihm das internationale Recht zubillige.

Eher an Ungarn als an die Türkei gerichtet scheint der Vorschlag, einzelnen Mitgliedsländern nur noch dann ein Vetorecht zuzubilligen, wenn es ein Minister ausspricht. Dass der keinen Diplomaten mehr vorschicken kann, soll die Schwelle erhöhen, so ein Veto einzulegen. Ob das die ungarische Staatsführung davon abhalten würde, ihre Blockade einer "Vertiefung" der Beziehungen der NATO zur Ukraine aufzugeben, ist fraglich (vgl. "Todesliste" mit angeblichen Doppelpass-Ungarn verschlechtert Verhältnis zur Ukraine).

Russland soll "systemischer Rivale" werden

Die konkretesten Vorschläge finden sich in den Empfehlungen zu einem neuen "strategischen Konzept", das das aktuell gültige von 2010 ersetzen soll. Dieses zehn Jahre alte Konzept nennt Russland noch als "strategischen Partner". Nun soll das Land als "systemischer Rivale" und "ernste Gefahr" eingestuft werden. Auf die "durchsetzungsstarke Weltmacht" China will man nun ebenfalls ein Auge haben und dafür enger mit den pazifischen Mächten Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea und Indien zusammenarbeiten. Eine "Sicherheitsgarantie" für Taiwan, das die Volksrepublik als Teil Chinas ansieht (vgl. "Grober Eingriff in Chinas innere Angelegenheiten"), soll es de Maizière zufolge aber vorerst nicht geben. Dafür empfiehlt die Reflexionsgruppe, Verteidigung auch als technologische Angelegenheit zu betrachten, und nicht nur beim 5G-Mobilfunkstandard, sondern auch bei chinesischen Investitionen längerfristige Abhängigkeiten zu prüfen.

Der stellvertretende russische Außenministers Sergej Rjabkow hat die NATO währenddessen dazu aufgefordert, sich vom Konzept der "nuklearen Teilhabe" zu verabschieden, das seiner Interpretation nach gegen den Atomwaffensperrvertrag von 1970 verstößt. Dieses Konzept erlaubt es den USA, Kernwaffen in Ländern wie Deutschland zu stationieren, die selbst auf solche Verteidigungsinstrumente verzichtet haben. Entschließe sich die NATO zu diesem Schritt, so Rjabkow, könne "im Bereich der Reduktion von Risiken auf der Atomebene vieles erreicht werden" (vgl. "Im Grunde dazu bereit, das ganze Atomarsenal einzufrieren").

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