20 Jahre Wikipedia: Interview mit Enzyklopädie-Mitgründer Jimmy Wales

Zum 20-jährigen Jubiläum der Wikipedia haben wir mit Mitbegründer Jimmy Wales über seine Rolle im Projekt und die Zukunft der Enzyklopädie gesprochen.

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(Bild: Lino Mirgeler, dpa (entstanden im Frühjahr 2020 auf der Konferenz DLD))

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Torsten Kleinz

Jimmy Wales ist das Gesicht der Wikipedia. Er hat die Online-Enzyklopädie 2001 mitgegründet, leitete bis 2006 die Wikimedia Foundation, die Stiftung hinter Wikipedia, und hat bis heute einen Sitz im Kuratorium der Stiftung. c’t stand er zu den Ursprüngen der Plattform, seiner Rolle in dem Projekt sowie der Zukunft der Wikipedia Rede und Antwort.

c’t: Im Jahr 2001 hatten Sie als Börsen-Trader einiges Geld verdient und ihr erstes Start-up gegründet: Bomis.com. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Online-Enzyklopädie zu starten?

Jimmy Wales: Ich kam damals mit der Free-Software-Bewegung in Berührung. Und ich dachte mir: Diese Art der Zusammenarbeit könnte man eigentlich für alles Mögliche nutzen. Eine Enzyklopädie zu schreiben erschien mir als offensichtliche erste Wahl.

c’t: Gab es besonderen Bedarf für eine Online-Enzyklopädie oder ging es nur darum, mit der neuen Form der Zusammenarbeit zu experimentieren?

Wales: Beides war der Fall. Es war zu dieser Zeit ziemlich offensichtlich, dass eine Enzyklopädie im Internet gebraucht würde. Es gab schon Millionen Webseiten mit spezifischem Wissen, aber oft sucht man nur eine Kurzfassung. Es bestand ein Bedarf nach einer Übersicht für etabliertes Wissen.

c’t: Neben der technischen Grundlage für Wikipedia ist auch die Entscheidung, die Enzyklopädie zum Non-Profit-Projekt zu machen, entscheidend für den Charakter der Wikipedia. Wie kam es dazu?

Wales: Wikipedia ist in vieler Weise ein Kind des Dot-Com-Crashs. Es war damals nicht klar, ob man irgendein tragfähiges Geschäftsmodell oder Investoren finden könnte, um das Projekt fortzuentwickeln. Viele der Freiwilligen waren sehr dafür, dass wir Wikipedia als Non-Profit-Organisation entwickeln. Mir leuchtete das sofort ein: Eine Enzyklopädie ähnelt ja einer Institution wie einer Bibliothek oder einer Schule. Die Entscheidung hat sich als sehr gut für uns herausgestellt. Zum einen gibt es uns heute noch. Zum anderen ist eine kostenlose und werbefreie Wikipedia das, was unserer ursprünglichen Vision am nächsten kommt.

c’t: Hätte eine Werbefinanzierung den Charakter der Wikipedia denn geändert?

Wales: Möglicherweise. Wie man sein Geld verdient, hat einen großen Einfluss auf Organisationen – egal ob auf eine Firma oder eine Non-Profit-Organisation. Die Anreize, wie man gewisse Probleme angeht, verschieben sich. Die Leute spenden nur für Wikipedia, wenn sie den Eindruck haben, dass das Projekt einen bedeutsamen Einfluss auf ihr Leben hat. Hätten wir auf Strategien wie Clickbait-Überschriften oder gezielt provokativen Inhalt gesetzt, wäre dies nicht der Fall.

c’t: Es gab eine Menge kommerzielle Herausforderer. Hat Ihnen einer davon Sorgen gemacht?

Wales: Nicht wirklich. Wir waren sehr früh sehr erfolgreich. Ich habe mir einige Projekte angesehen, die in der Presse als mögliche Wikipedia-Killer bezeichnet wurden. Dabei habe ich sehr schnell gemerkt, dass sie nicht das Potenzial der Wikipedia haben. Zum Beispiel erlaubte Microsoft Encarta zu einem gewissen Zeitpunkt, dass Nutzer die Beiträge ändern konnten. Ich dachte: Das ist auf alle Fälle ein interessanter Kurswechsel. Also habe ich mich angemeldet und es ausprobiert. Als ich jedoch eine Änderung losgeschickt hatte, bekam ich die Rückmeldung, dass sich jemand innerhalb von einer Woche meine Änderung ansehen und entscheiden würde, ob meine Arbeit akzeptiert würde. Da war für mich klar: Das ist keine Konkurrenz für Wikipedia. Es wird niemandem wirklich Spaß machen, eine ganze Woche auf eine Änderung zu warten.

Aber da wir bei Wikipedia nie kommerzielle Ambitionen hatten, konnten wir die Arbeit relativ entspannt angehen. Wir waren einfach ein paar Geeks, die Spaß hatten. Wenn es den Leuten gefällt – prima. Hätte es nicht gefallen, hätten wir immer noch Spaß gehabt.

c’t: Viele der Geeks, die Spaß an Wikipedia hatten, kamen aus Deutschland.

Wales: Wir hatten direkt von Anfang an eine starke Community in Deutschland. Viele Leute entwickelten eine richtige Leidenschaft für das Projekt. Nicht nur beim Schreiben von Artikeln, sondern auch bei den Entwicklern, die unsere Software voranbrachten. Auch strukturell brachte uns die deutsche Community weiter. Ein deutscher Wikipedianer erzählte mir mal einen Witz: Wie nennt man zwei Deutsche? Einen Verein. Wie nennt man drei Deutsche? Einen Verein mit Problemen. (lacht) Die Community in Deutschland wollte also wirklich eine Organisation schaffen. Und das, was damals hier entstand, wurde zum Modell für alle lokalen Vereine, die seitdem rund um die Welt gegründet wurden.

c’t: Sie verglichen Ihre Rolle in der Wikipedia-Community einst mit der englischen Königin. Ist das immer noch so?

Wales: Ich glaube, es ist immer noch so: Ich habe eine gewisse Rolle in der Community – aber ich habe nicht wirklich Macht. Ich bemühe mich, die Leute an die Werte zu erinnern, auf die sich Wikipedia gründet. Wenn es einen Streit in der Community gibt, versuche ich mich nicht allzu sehr einzumischen. Aber manchmal melde ich mich doch zu Wort.

Kürzlich etwa gab es ein Beispiel. In den USA gab es zwei Kandidatinnen für ein politisches Amt. Wir hatten einen Artikel über die Amtsinhaberin, aber keinen über ihre Herausforderin. Ich erkundigte mich, warum das so ist. Es stellte sich heraus: Es gab keine gezielte Entscheidung gegen die Herausforderin. Dass ihr Artikel gelöscht wurde, war das Ergebnis einer ganzen Serie von Entscheidungen, etwa über die Relevanzkriterien der Wikipedia. Für mich sah es wie ein Bug aus. Es sollte doch das Ziel einer Enzyklopädie sein, dass Wähler sich über die Kandidatin einer der großen Parteien für ein wichtiges politisches Amt informieren können. Meine Rolle ist aber nicht, dann mal eben die Entscheidung zu treffen oder die Regeln zu ändern – ich machte die Leute nur darauf aufmerksam.

c’t: Für viele Leute, die sich neu in Wikipedia engagieren wollen, ist es frustrierend, dass sie die Entscheidungen nicht nachvollziehen können. Wie würden Sie den Entscheidungsprozess beschreiben?

Wales: (lacht) Auch für Leute, die sich sehr lange in der Wikipedia engagieren, ist das zuweilen frustrierend. Es ist ein sehr komplexer Prozess, mit vielen Traditionen. Manchmal sind die Regeln niedergeschrieben, manchmal nicht. Ein großer Teil funktioniert auf sozialer Ebene. Manche Leute haben sich mit ihrer Arbeit einen hohen Status erworben, der es ihnen einfacher macht, gewisse Entscheidungen durchzusetzen als andere, die neu sind – insbesondere, wenn sie sich aufbrausend verhalten.

c’t: Eines der obersten Ziele der Wikimedia Foundation war es, Wikipedia auch in Entwicklungsländern groß zu machen. Doch ein Erfolg wie damals in Deutschland steht aus. Warum ist dies so?

Wales: Es gibt eine Reihe von Gründen. Wo es Probleme mit der Finanzierung von Bildung und von allgemein verfügbaren Internetzugängen gibt, hat es Wikipedia natürlich schwerer. Meine Auffassung ist, dass wir als Wikimedia mehr Geld in diese Länder stecken sollten. Von den Pilotprojekten werden natürlich einige scheitern. Aber in meinen Augen ist dies für die Mission der Wikipedia äußerst wichtig.

c’t: Eines der neuesten Schwesterprojekte der Wikipedia ist Wikidata. In nur wenigen Jahren wurden hier eine Milliarde Faktenstatements zusammengetragen.

Wales: Ich bin fasziniert von Wikidata. Ich glaube, das Projekt hat großes Potenzial. Wir wissen, dass viele Dienste wie Sprachassistenzsysteme auf einem Datenschatz basieren, der proprietär ist. Google, Apple und Amazon kontrollieren all dieses Wissen. Das sehe ich als Problem. Im Gegensatz dazu ist Wikidata völlig offen. Meine Hoffnung ist, dass sich viele Entwickler finden, die mit diesem Datenschatz etwas anzufangen wissen.

c’t: Firmen wie Google, Apple und Amazon lieben Wikidata und nutzen die Datenbank teilweise schon ziemlich extensiv. Ist das in Ihrem Sinne?

Wales: Ich glaube, es ist wie bei Open-Source-Software. Leute können sie benutzen, wenn sie eine Verwendung dafür finden.

c’t: Ein neues Projekt versucht aus dem Datenschatz von Wikidata lesbare Artikel zu generieren. Ist dies die Zukunft von Wikipedia? Können Sie sich vorstellen, dass Artikel von einer künstlichen Intelligenz geschrieben werden statt von Menschen?

Wales: Ich glaube, es ist noch ein weiter Weg. Viele Leute sind zum Beispiel sehr beeindruckt von den Texten, die mithilfe des KI-Modells GPT-3 entstehen. Die Realität ist aber: Auch wenn sich die Texte plausibel anhören, sind viele der Ergebnisse purer Blödsinn. Auf der anderen Seite sehe ich viele Anwendungen für KI-Technik. So könnten Programme die Wikipedia nach Statements durchsuchen, die einander scheinbar widersprechen. Aber diese Ergebnisse sollten dann von einem Menschen überprüft werden.

Es wären auch deutlich komplexere Anwendungen möglich, um zum Beispiel zu überprüfen, ob ein Artikel einen bestimmten Bias hat oder wirklich wiedergibt, was in der verlinkten Quelle steht. Das ist natürlich kein Programm, das man in fünf Minuten in C++ zusammenhacken kann. Wenn das Ergebnis eine akzeptable Erfolgsquote hat, könnte der Einsatz von KI für Wikipedia sehr sinnvoll sein.

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In c’t 3/2021 haben wir WLAN-Router getestet. Wir wollten wissen, welche Vorteile Fritzbox & Co. mit Wi-Fi 6 gegenüber den Vorgängermodelle bringen. Wie Sie Ihre Kommunikation zuverlässig und ohne Komfortverlust absichern, erklären wir in einem großen Schwerpunkt. Viele Nutzer sitzen derzeit im Homeoffice und müssen sich die Leitung mit ihren Familienangehörigen teilen – ein neuer Tarif und kurze Vertragslaufzeiten könnten helfen. Außerdem haben wir schnelle SSDs, günstige 5G-Smartphones und vieles mehr getestet. Diese und weitere Themen lesen Sie in c’t 3/2021. Die Ausgabe ist ab dem 15.1.2021 im Heise-Shop und am gut sortierten Zeitschriftenkiosk erhältlich.

(jo)