Die herbeigeredete Spaltung

Tatsächlich handelt es sich um dieselben Bruchlinien wie schon seit Jahrzehnten - und diese werden kaum größer, sie erhalten bloß größere Aufmerksamkeit. Kommentar

Egal in welches Medium, welche Talkrunde, welches Onlinemagazin man zurzeit blickt, überall geht das Gespenst der gesellschaftlichen Spaltung um. Allerorts wird sie beschworen, wird verlautbart, sie vertiefe sich immer weiter - woran auch immer das festgemacht wird. Und wie tief, ist man geneigt zu fragen, kann diese Spaltung denn noch werden?

Müsste sie nicht längst so tief sein, dass es einen unüberwindbaren Graben zwischen der einen und der anderen Hälfte der Gesellschaft gibt? Und sind die Gruppen auf der einen wie der anderen Seite dann homogen?

Worum geht es hier eigentlich? Zuerst einmal muss man sich der Tatsache stellen, dass eine Bevölkerung von deutlich mehr als achtzig Millionen Menschen ganz selbstverständlich in unzähligen Fragen Differenzen aufweist, dass es eine riesige Spanne an Lebensstilen, Haltungen und Perspektiven gibt, die zwangsläufig Dialog und oft auch Streit erfordern. Es ist fast schmerzhaft, wenn man eine solche Banalität betonen muss.

Selbst mit besten Freundinnen und Freunden, mit Verwandten, Kollegen, Nachbarn ist man oft nicht einer Meinung, auch und gerade wenn man an sich gut miteinander klarkommt, darf man einander kritisieren, darf man die Auseinandersetzung suchen. Es ist ja eher so, dass man sich Sorgen machen sollte, wenn man immer nur übereinstimmt, denn dann kann etwas nicht stimmen. Und wer mir nun das Ausformulieren von Binsenweiseiten vorwerfen möchte, der möge das gerne tun, dem könnte ich kaum widersprechen.

Die Offenen und die Verschlossenen

Nein, all diese kleineren Risse, Spaltungen, Differenzen sind nicht gemeint, wenn die große, sich vertiefende gesellschaftliche Spaltung thematisiert wird. Was gemeint ist, ist die Spaltung zwischen der heterogenen, demokratisch eingestellten, dem (gerne kontroversen) Dialog gegenüber offenen Mehrheit der Gesellschaft und einer Minderheit, die sich aus dem demokratischen Diskurs oder gar gänzlich aus der Realität verabschiedet hat.

Das ist meiner Auffassung nach der Fall bei Personen, die zum Rechtsextremismus neigen und entsprechende demokratie- und verfassungsfeindliche Parteien wählen oder bei solchen, die sich als Widerständler gegen eine herbeifantasierte Diktatur wähnen, die der Youtube-Universität mehr Glauben schenken als seriösen und fundierten Stimmen; bei Personen, die ihre Meinung sagen, manchmal auch brüllen, und im gleichen Atemzug, am liebsten vor Fernsehkameras, hinzufügen, sie dürften ihre Meinung nicht sagen; bei Menschen, die an eine Weltverschwörung geheimer Mächte und per Impfung verabreichte Überwachungschips glauben.

Ja, das ist eine real existierende gesellschaftliche Spaltung. Aber wird sie größer, wird sie tiefer, wird sie schlimmer, wie allenthalben behauptet?

An eine Antwort kann man sich annähern, wenn man einen Blick auf Umfragen wirft (was freilich diesen einen Teil der Gesellschaft nicht erreicht, denn die haben ja längst durchschaut, dass jede Umfrage einfach gefälscht sein muss - es sei denn natürlich, die Umfrage bestätigt ihre Ansichten). Und auf Wahlergebnisse.

Eindeutige Trends für die grundsätzliche Zustimmung

Beide sind natürlich Schwankungen unterworfen, zeigen aber recht eindeutige Trends: Die Zustimmung für die Parteien des demokratischen Spektrums liegt bundesweit im Schnitt bei 85 bis 90 Prozent, in Ostdeutschland sieht es etwas weniger gut aus. Umfragen bringen ähnliche Ergebnisse.

Die grundsätzliche Zustimmung zu demokratischen Institutionen, der Arbeit der Bundesregierung und der Landesregierungen ist in vielen Fragen ähnlich hoch; dass sie bei einzelnen Themen auch mal stärker zu Skepsis, Ablehnung oder zumindest teilweise Ablehnung tendieren kann, ist klar. Das reflektiert die oben erwähnte Heterogenität der Mehrheitsgesellschaft.

Wenn wir nun sehr großzügig annehmen, dass zu dem abgespaltenen, tendenziell extremistischen und für Dialog und Fakten nicht mehr erreichbaren, zu Verschwörungsideologien tendierenden Teil rund ein Zehntel der Bevölkerung zählt, dann können wir in der Geschichte viele Jahrzehnte zurückgehen und werden diesbezüglich abermals nur leichte Schwankungen erkennen.

Der nicht erreichbare Bevölkerungsteil

Und das ist der Punkt: Diesen für die Mehrheitsgesellschaft nicht erreichbaren Bevölkerungsteil hat es immer gegeben, und er hatte auch schon immer in etwa dieselbe Größe. Die Schwankungen zeigen in erster Linie, dass es Unsicherheiten gibt, dass ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung so wenig gefestigt ist, dass er mal zeitweise in dieses (übrigens ebenfalls sehr heterogene) Lager rutscht, ein bis zwei Jahre später aber vielleicht schon wieder woanders steht.

Also: Dass es dort Menschen gibt, die durchaus noch für Fakten und Argumente erreichbar sind, oder die zumindest offen dafür sind, ihre Haltungen und Meinungen zu überdenken und anzupassen, sobald sie mit der Realität konfrontiert sind. So gibt es auch, zum Glück, Aussteiger aus extremistischen Kreisen, die sich heute der Präventionsarbeit widmen. Bloß, es müssten deutlich mehr sein.

Kommunikation: Eindruck von Mehrheiten, die faktisch Minderheiten sind

Wie kommt es also, dass die gefühlte (!) Spaltung immer größer und auch regelmäßig betont wird? Das hat in erster Linie mit medialen Dynamiken zu tun. Mit der rasanten Entwicklung der sozialen Netzwerke in den letzten rund zehn Jahren einerseits, mit der Aufmerksamkeitsökonomie der Massenmedien andererseits.

Auf Facebook und Co ebenso wie in Foren und Messengergruppen entstehen nicht bloß partielle Echokammern; hinzu kommt, wie inzwischen mehrfach nachgewiesen wurde, dass bestimmte, meist rechtsradikale und verschwörungsideologische Gruppen, die Stimmung in den Online-Kommentarspalten, den digitalen Stammtischen, gezielt und konzertiert anheizen und dadurch besonders laut erscheinen.

Es wird der Eindruck von Mehrheiten erzeugt, die faktisch Minderheiten sind. Ein gutes Beispiel hierfür war das Omagate des WDR zum Jahresende 2019, das gezielt von Rechtsextremisten hochgekocht wurde. Der WDR knickte ein. Und selbst als dort die meisten Kolleginnen und Kollegen verstanden hatten, was passiert war, weigerte sich ihr damaliger Chef Tom Buhrow beharrlich, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Nicht der Netz-Furor einer kleinen Gruppe war das Problem - sondern die falsche und ungelenke Reaktion darauf.

Womit die Frage bereits im Ansatz beantwortet ist: Die laute und radikale Minderheit ist wunderbares Klickbait-Material. Sie spült Geld in die Kasse. Die Berichte über Coronaleugner-Demos funktionieren wunderbar als voyeuristisches Schock-Entertainment, während die zeitgleich stattfindenden ruhigen, sachlichen, den Spielregeln des demokratischen Dialogs folgenden Protestaktionen gegen bestimmte Maßnahmen medial ziemlich unsexy sind.

Wen interessiert es schon, dass Unternehmergruppen, Künstlerverbände, Aktivisten der Veranstaltungsbranche seit fast einem Jahr einen oft mühsamen Dialog mit der Politik führen - und dabei durchaus auch einiges erreicht haben, beispielsweise bei der Ausgestaltung von Sofort- und Überbrückungshilfen oder den Hygienemaßnahmen außerhalb des Lockdowns? Das ist zwar konstruktiv, faktenorientiert, aber es ist halt längst nicht so sehenswert wie das Gruselfernsehen der Krakeeler-Demos.

Twitter wird in Deutschland nur von einer winzigen Minderheit genutzt

Ein anderes und anders gelagertes Beispiel: Twitter. Das Netzwerk ist massenmedial omnipräsent. Kaum eine Nachricht, kaum ein Bericht, kaum ein Kommentar kommt ohne den Verweis auf das aus, was einzelne Twitternutzer dazu zu sagen haben. Das ist oft witzig, informativ, unterhaltsam, ebenso oft widerlich und erschreckend.

Wichtiger aber: Es ist nahezu komplett irrelevant. Twitter wird in Deutschland nur von einer winzigen Minderheit genutzt. Dass darunter der Großteil aller hiesigen Medienschaffenden ist, ist der Grund dafür, dass es immer wieder zitiert, seine faktisch nicht vorhandene Relevanz also herbeigeschrieben wird.

Und das wissen auch die Digitalradikalinskis und nutzen es für sich. Je lauter sie auf Twitter sind, desto eher werden sie von Redaktionen und Journalisten wahrgenommen, desto eher landen ihre kruden Thesen und ihre Kübel voller Hass in der breiteren Öffentlichkeit.

Natürlich kann man all das nicht einfach ignorieren und ausklammern, auch weil Teile vor allem der rechtsextremen Minderheit eine faktische Gefahr für unsere pluralistische Demokratie sind und ihnen trotz all des Terrors und all der Morde der letzten Jahrzehnte noch immer viel zu oft Appeasement entgegengebracht wird.

Ja, man muss auch gewisse Demos thematisieren, zumal wenn Zehntausende Menschen inmitten einer Pandemie sämtliche Rücksicht fallenlassen und in ihrem Furor andere gefährden.

Aber man muss Maß halten bei dieser Aufmerksamkeit, man muss aufpassen, dass man einem ganz bestimmten Milieu nicht aktiv in die Hände spielt, indem man durch Dauerberichterstattung falsche Eindrücke erzeugt. Es gehört eben vorwiegend zu unserer medialen Aufgabe, das zu kommunizieren, was geschieht und was relevant ist - nicht das, was möglichst viele Klicks bringt. Denn auch auf diesem Weg verspielt man Vertrauen.