Pädagogik der Vaterlandsliebe

Wie wird man Patriot? (Teil 3)

Auch die bürgerliche Wissenschaft von der Erziehung befasst sich auf ihre Weise mit der Frage, wie und warum man zum Anhänger seiner Nation wird oder werden soll. Der dritte Teil behandelt zwei repräsentative Vertreter des Fachs.

Brezinka: Schule des Patriotismus1

Ein kürzlich verstorbener konservativer Altmeister der Lehrerbildung, Wolfgang Brezinka, dessen Thema u.a. die "Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft"2 war, hat sich ebenfalls der Thematik der guten und schlechten Ismen angenommen. Nach dem "Nationalpatriotismus" im "Lern- und Arbeitsbuch Rechtsextremismus"3 und dem Habermas’schen "Verfassungspatriotismus" trägt der professionelle Pädagoge nun einen "dummen Patriotismus" zur Begriffsverwirrung bei:

Distanz zum Vaterland ist gut, soweit sie gegen einen dummen und selbstgefälligen Patriotismus gerichtet ist (…). Die gefühlsmäßige Abkehr vom eigenen Land wird aber zur Gefahr, wenn auch ein aufgeklärter Patriotismus für entbehrlich gehalten wird.

Gefährlich wird nämlich dies:

Ohne ihn fehlt dem Bürger ein wesentliches Stück Geborgenheit und dem Staat eine Quelle der Kraft, die er braucht, um auf Dauer überleben zu können. Er ist sogar in guten Zeiten und erst recht in schlechten auf ein Mindestmaß an Opferbereitschaft angewiesen.

Brezinka teilt dankenswert klar mit, dass ein Staat, wie er ihn kennt, in guten wie in schlechten Tagen auf das Opfer seiner Bürger angewiesen ist. Er muss nicht weiter klären, dass dies in einem gewissen Gegensatz zu dem "wesentlichen Stück Geborgenheit" steht, von dem er im Satz davor spricht. Für ihn vermittelt sich das irgendwie pädagogisch bzw. didaktisch:

Opferbereitschaft aber kommt nicht allein durch Zwang zustande, sondern setzt auch liebende Zustimmung zu einem leicht verklärten Bild des Staates voraus, zum Mythos vom "Vaterland" jenseits aller konkreten Staatsorgane und ihrer Unzulänglichkeiten.

"Zwang" muss natürlich sein, das bedarf ebenfalls keiner weiteren Erklärung. Aber die Hinwendung zum Heimatland samt der damit eingekauften Opfer braucht auch ein Quantum Schönfärberei und Märchenerzählung, um dies dem kindlichen Gemüt gefühlsmäßig beizubiegen:

Je unaufdringlicher und indirekter (die Schulen bei der Pflege des Patriotismus) wirken, desto besser.

"Grundvertrauen"

Ein national- wie schulpädagogisch gerechtfertigtes Umgarnen des heranwachsenden Verstandes hält Brezinka folglich auch zur Erzeugung von "Grundvertrauen" für nötig. Dieses entsteht nämlich für ihn nicht dadurch, dass ein Kind die gesellschaftliche Umwelt als ein verlässliches Mittel seiner Bedürfnisse und Interessen kennen und schätzen lernt. Kein Staat kann bekanntlich "auf Dauer" von solchen Diensten "überleben", sondern braucht ihr Gegenteil, eben die Opferbereitschaft. Dies erzieherisch anzubahnen, ist für Brezinka kein leichtes Unterfangen, weil es dabei mit Einsicht und Vernunft nicht getan ist:

(Ein) Grundvertrauen muss früher entstehen und tiefer im Gemüt einwurzeln als rationale Erkenntnisse das können, denn aus ihm muss ein Leben lang die Kraft gewonnen werden, schlechte Erfahrungen, Zweifel und Angst zu verarbeiten, ohne sich und anderen zu schaden.

Wissensvermittlung allein reicht nicht aus. Dazu ist die Kraft der Selbstsucht, das Interesse am eigenen augenblicklichen Vorteil zu groß

Dem Materialismus traut der Professor einfach nicht über den Weg, und "rationale Erkenntnisse" sieht er den "schlechten Erfahrungen", die "ein Leben lang" anhalten, nicht gewachsen. Dazu braucht es die "emotionale Gewissheit, dass Leben Wert und die Welt Sinn hat". Für Brezinka, und weiß Gott nicht nur für ihn, kann diese affektive Regung "nur aus Gefühlsbindungen an nicht-rationalistische Überzeugungen und Ideale kommen" - und ist daher im organisierten Irrationalismus, also beim Guten Hirten und seinen Kollegen am besten aufgehoben:

Für gläubige Christen, Juden und Mohammedaner besteht diese Grundhaltung im Gottvertrauen.

Tragfähige Überzeugungen und Ideale dieser Art haben bisher auf Dauer nur die Religionen nähren können.

Als begriffliche Bestimmung der Religion ist das zwar genauso verkehrt und überzogen wie die Auffassung, das Gefühl sei "tiefer" und verlässlicher als die Vernunft.4 Dieses Menschenbild bürgerlicher Wissenschaftler ist aber allemal aufschlussreich: Die Religiosität wie das Emotionale schätzen sie offenbar als Momente der Unterordnung gegenüber einem Verstand, der sich zumindest theoretisch zum Subjekt seiner Lebensverhältnisse machen kann.

Piaget: Entwicklungstheorie des Patriotismus

Wo es Brezinka um die erzieherische Anbahnung und Pflege einer Heimatliebe zu tun ist, die in seinen Augen ein Staat nun einmal braucht, hat sich Jean Piaget (1896-1980), eine Ikone der pädagogischen Psychologie, bemüht, die Genese dieses Wir-Gefühls nachzuzeichnen. Auch er misst ihm in einer verwegenen Deutung eine wichtige Rolle für die Nation zu: "Wir" hätten nämlich "Vaterländer (…) ins Leben gerufen, indem wir mühsam unseren Egozentrismus in Schach hielten und disziplinierten".5 Die Geschichte und Logik von Staatsgründungen trifft das zwar nicht, aber so gewinnt Piaget ein Ziel und eine Aufgabe der kindlichen Entwicklung.

Die besteht darin, den besagten "Egozentrismus" zu überwinden, was die kindliche Natur altersgemäß für die Elf- bis Zwölfjährigen vorgesehen habe. Dann könne der Nachwuchs den Begriff der Nation und des Vaterlandes hinreichend verstehen und die emotionale Bindung an die Familie auf größere Kollektive ausweiten. Fahnen, Nationalhymnen u.Ä. würden helfen, die Idee dieser Kollektivität aufzubauen.6

Wenn Piaget insistiert: "Es gibt keine Schublade für die Moral (und) eine weitere für die Intelligenz"7, dann bekundet er, dass für ihn die Entfaltung des Verstandes und die Ausbildung von Moralität und Gemeinsinn zusammenfallen und dass die Kinder in beides "hineinwachsen". Denn seine Entwicklungstheorie geht davon aus, dass diese Gegenstände erstens "in der Biologie (als der) Erklärung aller Dinge und des Geistes selbst" wurzeln, also eine "biologische Erklärung der Erkenntnis" 8 ansteht, und dass zweitens Intellekt und Moral mit der "Funktion" einer beständigen Anpassung an die natürlichen und gesellschaftlichen Umstände betraut sind.