Nach der Privatheit

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Christian Heller

Das Ende des Privaten naht. Schuld ist die unaufhaltsam wachsende globale Informationsmaschinerie. Droht so auch das Ende der Freiheit? Nicht unbedingt.

Es greift zu kurz, Privatsphäre nur als Kernraum der Freiheit zu sehen. Hier halte sich soziale Kontrolle zurück, hier könne man sich unbeschränkt verwirklichen, hier könne Unangepasstheit zum politischen Stachel heranwachsen. Das unterschätzt die hemmende, potenziell erstickende Isolation des Privaten. Unter ihrer Decke vollziehen sich zum Beispiel häusliche Gewalt und Kindererziehung zu repressiven Werten. Ebenso kann Privatheit ein Verlies sein, in das eine intolerante Gesellschaft Andersartiges sperrt, und zugleich ein Ventil, damit sie nicht toleranter werden muss. Der Befreiungsweg der Homosexuellen etwa führte folglich nicht über Datenschutzkampagnen, sondern über Massen-Outing.

Betrachten wir die Gründe zum Abstreifen der Privatheit im Internet: Je mehr ich das Netz von mir wissen lasse, umso besser kann es meine Wünsche ablesen und mir Kommunikations- und Tauschpartner vermitteln. Das Netz formt Werte, die durchs Teilen nicht ab-, sondern zunehmen. Diese Grundidee hinter Begriffen wie "Open Source" oder "Creative Commons" überträgt das Social Web auf persönliche Informationen: Je mehr ich mich dem Netz öffne, desto mehr Wege habe ich, mich zu entfalten.

Das Netz ist nämlich keine Öffentlichkeit, die gleichschaltet, sondern eine, die Vielfalt fördert. Noch obskurste Interessen finden Raum für Austausch, Bestätigung, Verstärkung. Die Vielfalt der Anschlussmöglichkeiten wächst, je mehr Menschen ihre Andersartigkeit nach außen tragen. Niemand muss sein Wesen mehr durch den Flaschenhals der Anpassung zwängen, um Rückhalt in Geselligkeit zu finden. So braut sich eine Sturmflut offener, schamloser Anormalität zusammen. Bald wird sie die Gesellschaft in Zugzwang bringen zu bersten – oder dehnbarer, toleranter zu werden.

Ein anderer Punkt: Vielleicht archivieren bald alle ihre Stimmungen, Meinungen und Handlungen öffentlich. So würde sich die Wechselhaftigkeit, Inkohärenz und Kontextabhängigkeit menschlicher Wesen offenbaren. Begriffe wie "Normalität", "Identität" oder "Persönlichkeitskern" verlören damit ihre Gewalt über uns. Je ausgiebiger wir das Chaos unseres Seins dokumentieren, desto schwieriger wird es, uns darauf festzunageln. Je mehr Daten über uns im öffentlichen Umlauf sind, desto weniger können wir mit ihnen erpresst werden.

Abschließend eine Warnung: Freiheit lässt sich in einer Informationsgesellschaft eher durch Offenheit als durch Privatheit voranbringen. Orwells "1984" schilderte eine absolut unfreie Gesellschaft ohne Privatheit, aber auch ohne Offenheit: Der Informationsfluss war einseitig. Freiheit ohne Privatheit lässt sich nur dort denken, wo alle alles über alle wissen. Nun: Privatheit schwindet. Also gilt es, ein gesundes Misstrauen gegenüber jeder Art von Informationsmonopolismus zu entwickeln.


Christian Heller aka plomlompom beschäftigt sich in seinem Futurismus-Blog futur:plom mit naheliegenden und nicht so naheliegenden Zukunftsvisionen und ihrer Verwirklichung. Er hielt auf dem 25. Kongress des Chaos Computer Clubs einen Vortrag zum Thema "Post privacy" (s. Seite 14 der Printausgabe). (ole)