Erdbeben und Vulkanausbrüche: Wie Japan sich auf den Worst-Case vorbereitet

Nach der Tsunami- und Atomkatastrophe von 2011 übt sich Nippon im Desasterdenken – im Rechner und in der Praxis.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 15 Kommentare lesen

Der Berg Fuji ist ein aktiver Vulkan.

(Bild: Photo by Nicholas Turner on Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

In der vergangenen Woche wartete Japans Präfektur Shizuoka mit einer buchstäblich katastrophalen Erfolgsmeldung auf. Durch verbesserten Katastrophenschutz konnte in Simulationen die Zahl von Tsunami-Toten nach einem möglichen Erdbeben vor der Küste um 70 Prozent unter die Schätzung gesenkt werden, die in einem Worst-Case-Szenario 2013 aufgestellt wurde.

Mit 33.000 Menschen ist der neue größte angenommene Blutzoll eines Megabebens im Nankai-Graben immer noch enorm. Das wären immer noch ein Prozent der Präfekturbewohner. Aber mit den früheren Schutzmaßnahmen, die auf Simulationen vor dem neuen Ernstfallszenario beruhten, wären simuliert 96.000 Menschen durch den Tsunami, 9300 durch kollabierende Gebäude und 200 in Erdrutschen umgekommen.

Der Auslöser für das schockierende Ernstfallszenario von 2013 war dabei eine Katastrophe, die sich vorher niemand ausmalen wollte: die Desastertrinität von 2011. Ein Erdbeben mit der Magnitude 9 auf der Richterskala löste vor etwas mehr als zehn Jahren einen Riesentsunami aus, der an Japans dünnbesiedelter Nordostküste 18.000 Menschen tötete und im Atomkraftwerk Fukushima 1 eine Atomkatastrophe auslöste. Dabei galt der Tsunamischutz an der Küste als vorbildlich.

Bei der Analyse des Unfalls stellte sich allerdings schnell heraus, dass die früheren Schutzmaßnahmen sich nicht an den schlimmsten bekannten Erdbeben in der Region orientierten, sondern an Fällen, die die Forscher für am wahrscheinlichsten hielten. Nachdem die Natur allerdings das Vorstellungsvermögen der Planer so deutlich übertroffen hatte, schwenkte Japans Regierung um: Inzwischen werden die Katastrophen immer öfter an den historisch bekannten schwersten Fällen gemessen, auch wenn die Ergebnisse der Simulationen die Menschen mehr erschrecken sollten.

Zuerst wurde dieses neue Desasterdenken für ein mögliches Megabeben im Nankaigraben angewendet. Denn dort wäre im Gegensatz zu Japans strukturschwachen Nordosten mit den Präfekturen Shizuoka, Aichi, Mie und Wakayama nicht nur Japans dicht besiedeltes industrielles Herzland mit den wichtigsten Werken von Toyota Motor betroffen. Das mögliche Epizentrum liegt auch viel näher an der Küste als beim Beben von 2011.

Das bedeutet, dass den Menschen oft nur wenige Minuten bleiben, um sich in Sicherheit zu bringen. Der zuständige Regierungsausschuss erhöhte damals die Bebenstärke von 8,8 auf 9. Das Resultat der Rechnung: Die Zahl der angenommenen Opfer wurde von 23.000 auf 320.000 Tote und die Schäden auf 40 Prozent von Japans Bruttoinlandsprodukt erhöht. Mit den Horrorzahlen verbanden die Experten aber die Botschaft, dass besserer Schutz die Zahl der Opfer massiv senken könnte. Und so gingen die Präfekturen ans Werk wie jetzt das Beispiel Shizuoka zeigt.

Wie in anderen Gegenden des Landes wurden Infrastrukturbauten wie Pfeiler von Gleisanlagen sowie Häuser verstärkt. Darüber hinaus wurden an einigen Orten Schutzwälle gebaut, an anderen Rettungstürme, auf die sich die Menschen nach einem Erdbeben flüchten können. Bestehende hohe Betongebäude wurden als Tsunami-Evakuierungszentren ausgewiesen. Denn Großteil des Küstengebiets besteht aus Flachland und bietet im Gegensatz zum bergigen Nordosten keine nahen Anhöhen, auf die sich die Menschen retten könnten.

Zudem wurden die vorhandenen Anhöhen mit Treppenstufen versehen, damit sich die Menschen schneller die Hänge hoch retten könnten, von denen sie dann zusehen können, wie die zerstörerische Wasserwand ihre Einfamilienhäuser und Autos mitreißt. Und das ist noch nicht das Ende. Bis zum kommenden Jahr sollen die Horrorzahlen mit zusätzlichen Maßnahmen um weitere zehn Prozent gesenkt werden.

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Das Beispiel ist kein Einzelfall. Die Atomaufsicht entzog nach einer Neubewertung von Erdbebenrisiken mehreren Atomkraftwerken die Betriebsgenehmigung. In vielen Orten wurden die Hochwasser- und Erdrutschkarten neugezeichnet. Das jüngste Großprojekt dieser Art wurde Ende März vorgestellt, eine neue Katastrophenkarte für den Nationalberg Fuji.

Mit seiner nahezu idealtypischen Kegelform ist er ein sehr schöner Vulkan, den Japaner seit Jahrhunderten in Gemälden und Gedichten romantisieren. Aber bei einen Ausbruch könnte er große Teile der Millionenstädte Tokio, Kawasaki und Yokohama fünf und mehr Zentimeter mit Asche überstauben. Das war schon lange bekannt. Doch nun wurde der Worst-Case für Lavaströme neu kalkuliert.

Bisher hatten die Experten den letzten Ausbruch von 1707 für ihre Berechnungen zugrunde gelegt. Nun wählten sie eine stärkere Eruption aus dem neunten Jahrhundert. Damit verdoppelte sich das geschätzte Volumen der Lavaströme nahezu auf 1,3 Milliarden Kubikmeter und die Zahl der möglichen Lavastromquellen auf von 44 auf 252.

Prompt müssen zwölf weitere Städte in den Präfekturen Shizuoka, Kanagawa und Yamanashi bisher sicher gewähnte Teile ihrer Gebiete als Evakuierungszonen ausweisen. Die neue Desasterkarte zeigt zudem, dass sich wichtige Verkehrsschlagadern wie die Superschnellzugverbindung zwischen Tokio und dem Westen des Landes sowie die wichtigste Autobahnverbindung von Lava und pyroklastischen Strömen aus Staub, Gas und Steinen, die sich rasant Hänge hinunterwälzen, erreicht werden können.

Die neuen Berechnungen erinnern die Japaner daran, wie gefährlich es ist, auf der Bruchzone mehrerer Erdplatten zu leben. Aber wirtschaftlich hat die erhöhte Sorge auch ihr Gutes. Die neue Karte wird nun Japans Regierungen eine neue Möglichkeit geben, mit zusätzlichen Baumaßnahmen sowohl Leben zu schützen wie auch die Wirtschaft zu fördern.

(bsc)