Wie wir die Kontrolle über die Corona-Technokratie verloren haben

Und weshalb wir sie zurückerlangen müssen. Thesen über eine scheinbar alternativlose und faktisch hochriskante Krisen-Politik

Die Verteidiger einer rigorosen Corona-Politik argumentieren gegenwartsorientiert, berufen sich nicht auf historische Vorbilder. Mit gutem Grund: Noch vor fünfzig Jahren wäre eine solche Reaktion ausgeschlossen gewesen. Für sie sind nicht eine besonders schwere Krankheit, sondern besondere gesellschaftliche Bedingungen verantwortlich.

Damit scheint sich die Kritik auf die vergleichbaren letzten großen Grippepandemien von 1957/58 und 1968-70 berufen und eine grundsätzliche Alternative verfechten zu können: den Verzicht auf einschneidende Maßnahmen. Faktisch schließen aber die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen gerade eine solche Alternative aus. Warum?

In den letzten Jahrzehnten ist zunächst das Sicherheitsbedürfnis gewachsen. Mit zunehmender Naturbeherrschung wurden immer mehr Gefahren – ihnen ist man ausgesetzt – zu Risiken, zu Folgen von Entscheidungen. Die Gesellschaft wurde zur Risikogesellschaft, die für alle Ereignisse selbst verantwortlich ist, weshalb bei Fehlentwicklungen Versäumnisse der Politik beklagt werden.

Die individuelle Gefahr während einer Pandemie zu sterben, wurde so zum sozial bedingten Risiko, aufgrund fehlender Medikamente oder medizinischer Kapazitäten zu sterben. Je reicher die Gesellschaft, umso höher das Sicherheitsbedürfnis, die Ängste, umso höher der Anspruch an die Politik, gegen alle möglichen Gefahren vorzusorgen.

Dieses Sicherheitsbedürfnis traf bei Corona-Pandemie auf die Warnungen von Fachleuten, gegenwarts- und bildorientierten, weltweit operierenden Massenmedien, was die von der öffentlichen Meinung abhängige und an weltpolitischen Vorbildern orientierten nationalen Politiken zwang, die Gesellschaft herunterzufahren. Die Digitalisierung bot hierzu – letztlich entscheidend – die technische Grundlage oder vielmehr umgekehrt: Die Digitalisierung ermöglichte erst die Politisierung der Krankheit, die technischen Mittel erlaubten erst die Zwecksetzung des staatlichen Schutzes vor Corona.

Ein unbekanntes Virus trifft auf Sicherheitsbedürfnis (Angst), Fachleute, gegenwartsorientierte Massenmedien, Weltpolitik und Digitalisierung – ein modernes Reaktionssyndrom – und bewirkt einen gesellschaftlichen Stillstand. Ohne diese "Allianz" wäre Corona ein allgemeines Lebensrisiko und eine Sache des Gesundheitssystems geblieben, die nationalen Gesundheitssysteme in zeitweilige Krisen geraten, die sie mit Notmaßnahmen durchzustehen gehabt hätten.

So aber hat die Politik erzwungenermaßen aus einer Gesundheitskrise eine Gesellschaftskrise gemacht, ein gesellschaftliches Großexperiment mit unvorhersehbarem Ausgang. Man fragt sich: Wie wäre es ohne Impfstoffe weitergegangen? Oder: Was würde die Politik bei einer Pandemie mit hoher Sterblichkeit tun? Das Leben völlig, vielleicht über Jahre lahmlegen?

Die Corona-Politik ist, weil grundsätzlich alternativlos, "an sich" keine politische Frage. Die Politiker gebärden sich zwar als Macher, staatsmännisch und besorgt – eine Rolle in der sie aufblühen –, scheinen aber gar nicht zu bemerken, wie geringe Entscheidungsfreiheiten (vollständige oder eingeschränkte Ausgeh- und Kontaktverbote) sie haben.

Der demokratische Wettbewerb fehlt

Demokratische Politik läuft über den Wettbewerb von Regierung und Opposition, und er fehlt fast völlig bei Corona. Dass etwas getan werden musste, ist in fast allen politischen Lagern Konsens. "An sich" wäre eine Gegenposition Sache von Liberalen, die gegen staatliche Bevormundung auf der Verantwortung der einzelnen bestehen müssten. Oder auch der Linken, die sich gegen Notstandsmaßnahmen wehrt.

Stattdessen findet sich geringer Widerstand eher rechts-populistisch. Der politische Mainstream hat sich unterstützt von den meisten Medien auf die prinzipielle Berechtigung von Einschränkungen und schnellen Reaktionen der Exekutive festgelegt. Das demokratische Verfahren ist für solche Situationen zu langsam: Die Notstandsmaßnahmen wurden von den Parlamenten nur noch nachträglich abgesegnet – woran eine frühere Einbeziehung nichts Grundsätzliches ändern würde.

Entscheidend sind nicht die Politiker, sondern die Experten, die, dafür sind sie schließlich auch da, nur ihr Gebiet sehen. Sie warnten und empfahlen den Lockdown, die Politiker folgten. Dabei half, dass ihre Empfehlungen nur eine jahrhundertealte Tradition – lokale Quarantäne –, eine einfache, leicht verständliche Maßnahme, einfach auf die Weltgesellschaft übertrugen und so taten, als ob man ganze Staaten in Quarantäne versetzen könnte.

Nachdem die Experten allerdings bemerkt hatten, was für soziale Folgen ihre Warnungen auslösten, lehnten sie dafür die Verantwortung ab: Allein die Politik treffe die Entscheidungen, sie gäben nur Empfehlungen nach dem neusten Stand des Wissens. Ein typischer moderner Kurzschluss: Die Politik verweist auf die Experten, die auf die Politik verweisen, die auf die Experten verweist – das Phänomen der "organisierten Unverantwortlichkeit", wie es der Soziologe Ulrich Beck einmal nannte.

Wie kommt man aus diesem Zirkel? Die Politik sucht die geeigneten Experten oder umgekehrt: Die Experten bieten der Politik das, was sie gerade braucht. Auch der teilweise Sonderweg Schwedens stützt sich so "natürlich" auf einen Fachmann. Ein politisch genehmes Expertentum zeigte sich deutlich bei der Maskenfrage.

Erst hieß es, Masken würden nichts bringen, jetzt gelten sie als Hauptschutz. Waren die Masken nutzlos, solange es nicht genug für die Bevölkerung gab? Und sind sie jetzt nützlich, weil es sie gibt und die Politik so Handlungsstärke auf einem Gebiet zeigen kann, das (fast) nichts kostet? Und weiter: Wenn Masken Schutz bieten – warum dann ein Lockdown? Theater, Fußball, Gaststätten, Geschäfte waren mit ihren Schutzkonzepten doch erfolgreich. Betreibt man hier mithilfe von Experten nicht Symbolpolitik?

Etwa auch mit Corona-Apps, die, zunächst hochgelobt, doch voraussehbar die nötige Benutzerzahl in Europa nie erreichen. Man suggeriert Aktivität, obwohl man womöglich überhaupt keinen großen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat – so lag der Höhepunkt der Ausbreitung im Frühjahr 2020 in Deutschland vor dem Lockdown. Die strengen Ausgangsbeschränkungen in den romanischen Ländern oder der zeitlich längste Lockdown in Argentinien haben hohe Ansteckungszahlen nicht verhindert. Das Immunsystem stärkt man neuerdings offenbar in der Wohnung.

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