Erdogans Geiseln

Die Freilassung von Ahmet Altan ist eine Besänftigungstaktik, um die EU ruhigzustellen. Ein Kommentar

"Mit der großen Verhaftungswelle, die am folgenden Morgen einsetzte, wurden etliche Paschas und Hunderte von Offizieren der niederen Ränge in ihren Häusern abgeholt und in die Balmumdschu-Kaserne gebracht. (…) Und die Furcht, die sich wie ein von Zeit zu Zeit aus dem Untergrund auftauchendes Ungeheuer in Istanbul versteckt hielt, breitete sich wieder einmal aus wie eine Seuche. Auch unter der Zivilbevölkerung gab es Denunziationen und Verhaftungen. Ein jeder konnte seinen Widersacher anzeigen, indem er behauptete, es handele sich um einen von Fuat Paschas Knechten."

Diese Passage, die aus Ahmet Altans Roman "Wie ein Schwertstreich" stammt, liest sich so aktuell, dass Altan selbst, als er bereits inhaftiert war, schrieb: "Das Leben äfft meinen Roman nach." Die historische Erzählung spielt zum Ende des Osmanischen Reiches, und in Altans Darstellung gibt es unübersehbare Ähnlichkeiten zwischen dem paranoiden Sultan Abdülhamid II und dem heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Seit dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016, für den die zuvor mit Erdogans AKP Verbündete Gülen-Bewegung verantwortlich gemacht wird, herrscht für die türkische Opposition ein permanenter Ausnahmezustand. Wer sich auch nur minimal kritisch äußert oder im Verdacht steht, der Gülen-Bewegung anzugehören, muss mit Justizwillkür und Gewalt rechnen.

Ein Muster

Der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan, eine der gewichtigsten Stimmen der türkischen Zivilgesellschaft, war einer der ersten, die es wenige Tage nach der Putschnacht erwischte. Aufgrund einer kritischen Äußerung in einer Talkshow am Tag zuvor wurde er kurzerhand zum Mitverschwörer der Putschisten erklärt. Und zwar, wie bei solchen politisch motivierten Anklagen in der Türkei unter Erdogan üblich, ohne jegliche Beweise. Die kann es auch gar nicht geben, denn die Behauptung ist hanebüchen.

Aber all das macht Altan zu einem Musterbeispiel für den Umgang mit allen, die das System Erdogan nicht unterstützen. Als Geiselnehmer hat der deutsche Journalist Deniz Yücel Erdogan angesichts der Umstände seiner eigenen Haft bezeichnet, was umso deutlicher wurde, als Yücel nach massivem Druck der Öffentlichkeit erst freigelassen wurde, als Erdogan sich dadurch Vorteile im deutsch-türkischen Verhältnis versprach. Das wiederholt sich jetzt.

Altan wurde ursprünglich zu lebenslanger Haft verurteilt. 2018 erschien seine im Gefängnis verfasste Essaysammlung "Ich werde die Welt nie wiedersehen", für die ihm in Abwesenheit der Geschwister-Scholl-Preis verliehen wurde. In der Jurybegründung hieß es unter anderem:

"Mit dem politisch motivierten Urteil wurde ein kritischer Kommentator des Geschehens in der Türkei seiner Freiheit beraubt. In der Situation größter Unfreiheit behauptet Ahmet Altan auf eine bewegende und mutige Weise seine innere Freiheit. Die Texte, geschrieben immer wieder auch im Dialog mit der Weltliteratur, sind ein Dokument des Widerstehens und der geistigen Unabhängigkeit."

Das Urteil wurde aufgehoben, ebenfalls im Zuge öffentlichen Drucks vor allem aus Deutschland, Altans Fall in einem weiteren Schauprozess neu aufgerollt. Dass das Urteil (zehn Jahre Haft) just an dem Tag verkündet wurde, an dem Deniz Yücel das Gefängnis Silivri verlassen durfte, war kein Zufall, sondern die Retourkutsche. Im November 2019 wurde Altan dann trotzdem überraschend freigelassen und nur einen Tag später wieder inhaftiert.

Eine Taktik, um politische Gefangene psychisch zu brechen, die immer wieder angewendet wird. Can Dündar, Asli Erdogan und andere haben berichtet, dass sie selbst während ihrer Haftzeit erlebt haben, welche verheerenden Auswirkungen das auf die Psyche der Häftlinge hat. Es ist eine Form von Folter.

Mitte April 2021, nach viereinhalb Jahren im Gefängnis, hob nun ein Kassationsgericht in Istanbul überraschend und ohne Begründung Altans Haft auf und setzte ihn frei. Die Entscheidung scheint in Zusammenhang mit der Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu stehen, der Altans Inhaftierung für illegal erklärt hatte.

Deutschland und EU: Schweigen und wegschauen

EUGh-Urteile sind für die Türkei formal bindend. Bislang wurden sie aber fast durchweg ignoriert, Erdogan selbst hatte mehrmals klargestellt, dass ihn nicht interessiert, was der EUGh sagt. Die Freilassung Altans nun mit dem EUGh-Urteil zu begründen, wäre für Erdogan, der nach wie vor steif und fest von der Unabhängigkeit der türkischen Justiz fabuliert, peinlich gewesen. Der Grund ist aber ohnehin ein anderer.

Es ist, wieder einmal, ein Zugeständnis an Berlin und Brüssel. Ein prominenter Regimekritiker kommt aus dem Gefängnis, während die Zerschlagung der oppositionellen HDP in vollem Gange ist, mit tagtäglichen willkürlich begründeten Verhaftungen und dem Versuch, die Partei zu verbieten, was das Verfassungsgericht zwar vorerst abgelehnt hat - aber nicht inhaltlich, sondern bloß formal.

Dass das Verbot in absehbarer Zeit kommt, daran besteht kaum Zweifel. Starke Oppositionsparteien kann Erdogan angesichts seiner erbärmlichen Umfragewerte (aktuell hat er gerade mal noch ein knappes Drittel der Bevölkerung hinter sich, Tendenz sinkend) nicht gebrauchen. Die rechtsradikale MHP hat er im Sack, die kemalistische CHP ist schon seit Jahren keine ernstzunehmende Opposition mehr. Wenn die HDP ganz wegfällt, hat Erdogan im ohnehin kastrierten Parlament keinen Widerspruch mehr zu befürchten.

Darum geht es. Und dafür braucht er ein Deutschland und eine EU, die schweigen und wegschauen. Und die bekommt er. Noch vor wenigen Jahren hätte sein aktuelles despotisches Gebaren zu massiver diplomatischer Verstimmung geführt. Heute lassen jene, die sonst so gerne von Demokratie und Menschenrechten fabulieren, ihn einfach walten.

Weil er beim Thema Flüchtlinge zu wichtig ist. Weil er ein guter Kunde der deutschen Waffenindustrie ist. Weil man meint, ihn als Puffer nach Osten zu brauchen. Weil man verhindern will, dass er sich ganz von der EU abwendet und einfach mit anderen verbündet.

Und so weiter. Und wenn es um geostrategische Interessen geht, das zeigt die Geschichte immer wieder, sind Menschenrechte ein eher lästiges Detail - auch fürs Auswärtige Amt.