Wenn Krebs auf die lange Bank geschoben wird

Maligner Tumor. Symbolbild: www.scientificanimations.com / CC BY-SA 4.0

"Corona-Taskforce" warnt vor Todesfällen wegen zu später Diagnosen und Behandlungen. Die Politik müsse auch während der Pandemie die Versorgung von Tumorpatienten sicherstellen

Schon vor der "ersten Welle" der Corona-Pandemie Anfang 2020 bekam Andreas S. aus Berlin schlecht Luft. Der Grund: verdächtige Veränderungen an seiner Schilddrüse, die seine Atemwege tangieren. Bis heute weiß er nicht, ob es bösartige Tumoren sind - denn abgesehen davon, dass die Wartezeiten für Facharzttermine für Kassenpatienten in Berlin auch im Normalfall mehrere Wochen betragen, kam die Pandemie dazwischen. Zahlreiche Operationen und Untersuchungen wurden abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben, um Ärzte und Krankenhäuser zu entlasten sowie Kontakte zu reduzieren.

Das betraf auch etwa die Hälfte der nuklearmedizinischen Untersuchungen, die zum Beispiel Knoten in der Schilddrüse betreffen. Als die Infektionszahlen vorübergehend gesunken waren, bekam Andreas S. endlich seinen Termin für eine Szintigrafie - die Größe und Lage der Knoten zu diesem Zeitpunkt war damit abgeklärt, aber, ob es sich um Krebs handeln könnte. Dafür wären weitere Untersuchungen nötig, und nach der "zweiten Welle" gab es bereits eine Art Stau.

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Knoten gutartig sind, werden sie für ihn mehr und mehr zur Belastung. "Es gibt scheinbar nur noch Corona, es gibt keine anderen Krankheiten mehr", sagt S., der zwar durch ein Attest von der Maskenpflicht beim Einkaufen befreit ist, aber "aus Respekt" und wegen gereizter Reaktionen, die er schon erlebt hat, dort trotzdem einen Mund-Nasen-Schutz trägt. Nur eben keine FFP2-Maske - damit bekomme er wirklich keine Luft. Hinzu kommt die Angst vor Krebs, der im schlimmsten Fall auch schon "gestreut" haben könnte.

Dass der Berliner kein Einzelfall ist, zeigt ein dringender Appell der "Corona-Taskforce", die von der Deutschen Krebshilfe, dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) eingerichtet wurde, um die Versorgungssituation von Krebspatienten während der Pandemie zu beobachten und zu analysieren.

"Die Krebssterblichkeit wird nach oben schnellen"

"Sollte sich die Lage nicht kurzfristig entspannen, droht ein Kollaps des Versorgungssystems. Viele Patienten könnten dann nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden, mit heute noch gar nicht absehbaren Folgen", erklärten die Organisationen am Montag. Die Politik müsse die Versorgungskapazitäten in den Kliniken und Krankenhäusern, vor allem in Krebszentren, für Tumorpatienten sicherstellen. Unter anderem durch die klare Vorgabe, dass bei Überlastung einzelner Kliniken die Patientenversorgung auch von anderen Einrichtungen in der jeweiligen Region übernommen werden muss, soweit dies für die Betroffenen medizinisch vertretbar sei.

Ein Kollaps des Versorgungssystems hätte nicht nur kurzfristige Folgen: "Die Langzeitfolgen für Krebspatienten, die heute nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden können, sind noch gar nicht absehbar", erklärte Professor Dr. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ. "Wir werden zukünftig mit vielen Patienten konfrontiert werden, deren Krebserkrankung zu spät entdeckt wurde und deren Heilungschancen dadurch verringert sind. Das bedeutet: Die Krebssterblichkeit wird nach oben schnellen."

"Wir haben Zweifel, ob wirklich allen politisch Verantwortlichen bewusst ist, dass die 1.400 Menschen, die jeden Tag die Diagnose Krebs erhalten, auch zeitnah entsprechend versorgt werden müssen", so der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe, Gerd Nettekoven.

Die Organisationen appellierten allerdings auch an die Bevölkerung, "die von der Politik festgelegten Corona-Maßnahmen auch zum Schutz der zahlreichen Krebspatienten unbedingt ernst zu nehmen und einzuhalten". Vorrangiges Ziel sei es, dass sich möglichst wenige Menschen mit dem Virus infizieren und sich die Zahl der Neuinfektionen schnell wieder verringert. Auch müsse die jetzige Impfstrategie "mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln forciert werden", um das Gesundheitssystem zu entlasten.