Zahlen, bitte! Die Krise des Atombegriffes – 95 Jahre Schrödingergleichung

Vor 65 Jahren hielt Erwin Schrödinger in einem völlig überfüllten Hörsaal eine Vorlesung zur Krise des Atombegriffs. Zu der hatte er selbst beigetragen.

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Von
  • Detlef Borchers

Vor 95 Jahren veröffentlichte Erwin Schrödinger in den Annalen der Physik vier Aufsätze zur "Quantisierung als Eigenwertproblem". Bereits für die erste Mitteilung erhielt Schrödinger am 12. April 1926 begeisterte Zuschriften von Albert Einstein und Max Laue. Zusammen mit Paul Dirac bekam Schrödinger 1933 den Nobelpreis für Physik "für die Entdeckung neuer fruchtbarer Formen der Atomtheorie".

Vor 65 Jahren sprach Schrödinger am 13. April 1956 schließlich bei seiner Antrittsvorlesung in Wien über "Die Krise des Atombegriffes" und verteidigte seine Wellenmechanik. die ihn zur berühmten Schrödingergleichung geführt hatte. Das Interesse und das Publikum waren so groß, dass sie in mehrere Hörsäle übertragen werden musste.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Erkenntnisse der Atomphysik waren 1925 von einer Gruppe um den Physiker Werner Heisenberg in der Matrizenmechanik formalisiert worden. Diese Quantenmechanik war für die damals forschenden Physiker eine schwer zugängliche Mathematik und so erfuhr Erwin Schrödinger begeisterten Zuspruch, als er seine Wellenmechanik in Form einer Serie von Differenzialgleichungen auflöste, die zur Schrödingergleichung zusammengefasst wurden. Sie ist die Formel, die von Physikern weltweit am häufigsten an die Tafel geschrieben wird und mit ihr konnte etwa das sogenannte Wasserstoffproblem gelöst werden.

Worin bestand nun die Krise des Atombegriffes, die Schrödinger Zeit seines Lebens beschäftigte? Schrödinger war noch der klassischen Physik verbunden, wie sie Lord Kelvin formuliert hatte, der den Energie-Begriff in die Physik eingeführt hatte. Danach kann man ein physikalisches Problem nur dann verstehen, wenn man ein mechanisches Modell von der Sache herstellen kann. Noch sein bekanntestes Beispiel, Schrödingers Katze genannt, folgt dieser Bedingung von Lord Kelvin und versucht, den radioaktiven Zerfall aus der Atomphysik auf die makroskopische Welt zu übertragen: Die Katze ist tot, wenn der Detektor den Zerfall gemessen hat und Blausäure ausschüttet. Sie sitzt aber in einer Kiste und kann beide Zustände annehmen: lebendig oder tot.

Erwin Schrödinger suchte nun nach einem mechanischen Modell des Atoms, was aber nach den Erkenntnissen der Atomphysik des 20. Jahrhunderts völlig unmöglich ist, wie es Richard Feynmann zeigen konnte: Ein Atom besteht immer aus der Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Teilchens und der Ladungsverteilung (Welle). Mit diesem Welle/Teilchen-Dualismus wollte er sich nicht abfinden. Das war für Schrödinger die Krise des Atombegriffes, wie er dies vor 65 Jahren bei der völlig überfüllten Antrittsvorlesung ausführte, als er von den Behelfsvorstellungen der Korpuskel- (Teilchen) und Wellen als Denkbehelfe sprach: "Denn freilich, alle Vorstellungen sind nur Denkbehelfe! Und so mag man immerhin derzeit beide benützen, ja man muss es vielleicht heute noch. Aber man soll wenigstens ein schlechtes Gewissen dabei haben, man soll sein intellektuelles Gewissen nicht gegen diesen intellektuellen Frevel abstumpfen. Man soll sich von keiner Autorität einreden lassen, dass die beiden Vorstellungen sich wirklich zu einem einheitlichen Bild verschmelzen lassen, und auch nicht, dass heute schon untrüglich erwiesen wäre, ein einheitliches Bild des Naturgeschehens sei ewig niemals erreichbar."

Nach Richard Feynman, der 1965 den Physik-Nobelpreis zusammen mit Sin-Itiro Tomonaga und Julian Schwinger für "grundlegende Arbeiten auf dem Gebiet der Quanten-Elektrodynamik" erhielt, ist genau dies der Fall: Es gibt kein einheitliches Modell der Quantenphysik. "Even the experts do not understand it [die Quantenphysik] the way they would like to, and it is perfectly reasonable that they should not, because all of direct, human experience and of human intuition applies to large objects." ("Nicht einmal die Experten verstehen die Quantenphysik so wie sie gern wollen und ist völlig vernünftig, dass sie es auch nicht sollten. Denn alle direkte, menschliche Erfahrung und Intuition bezieht sich auf große Objekte.")

Erwin Schrödinger ist einer der sehr seltenen Naturwissenschaftler, die ihre Weltsicht reflektiert haben. 1960 schrieb er den Aufsatz "Die Besonderheit des Weltbilds der Naturwissenschaften" über die Induktion. "Sie ist die geistige Begleiterscheinung des einzigen praktischen Verhaltens, mit dem wir uns einer gesetzmäßig ablaufenden Welt gegenüber behaupten können." Der Geist ist in dem naturwissenschaftlichen Weltbild ein Fremdling: "Unser wahrnehmendes und denkendes Ich ist nirgendwo im Weltbild anzutreffen; weil es nämlich selber dieses Weltbild ist." Das Gehirn ist nach Schrödinger zufällig entstanden, Leben bestand schon viele Millionen Jahre ohne es.

Für ihn ist es nicht möglich, dass es einen Weltprozess gibt, in dem ein schöpferischer Geist vortritt und diesen spiegelt: "Die Welt ist nur einmal gegeben. Gar nichts spiegelt sich. Urbild und Spiegelbild sind eins." Auch so kann man die Schrödingergleichung auflösen.

(mho)