Grüne und CDU bauen ein zweites Stuttgart 21

S21 hautnah: "Tag der offenen Baustelle" im Januar 2020. Foto: Leopardengruen / CC0 1.0

Begrabt mein Herz an der Biegung der Gäubahn: Der in Baden-Württemberg geschlossene "grün-schwarze" Koalitionsvertrag ist für die Seniorpartner Endpunkt einer 180-Grad-Wende

Seit zehn Jahren stellen die Grünen in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten, zum zweiten Mal haben sie dort am 8. Mai einen Koalitionsvertrag mit der CDU geschlossen - und wer beim ersten schon geglaubt hat, sie könnten nicht noch gründlicher mit alten Prinzipien aufräumen, wird hier eines Besseren belehrt.

Im November 1995 erschien - als Antwort auf die erste Machbarkeitsstudie für "Stuttgart 21" mein erstes Buch zu diesem Bahnhofsneubauprojekt1 . Genauer gesagt: gegen einen "S21-Bahnhof im Untergrund." Damals - also vor 26 Jahren - argumentierte ich, dass Stuttgart 21 eine Bauzeit von "30 Jahren" erfordern würde. Aktuell geht man davon aus, dass das Projekt frühestens 2030 fertig ist. Ich sagte eine Kostenexplosion auf "rund zehn Milliarden" voraus. Gemeint waren D-Mark. Aktuell sind deutlich mehr als zwölf Milliarden Euro realistisch.

Damals widersprachen wir vor allem der zentralen Aussage der S21-Befürworter, dass der Kopfbahnhof als Konstruktion veraltet und mit seinen 16 Gleisen für eine Kapazitätssteigerung ungeeignet sei und der neu zu bauende unterirdische S21-Durchgangsbahnhof mit seinen acht Gleisen eine Leistungssteigerung bringen könnte.

Letzteres wurde mit einer Dokumentation der Zugbewegungen im 1922 erbauten Kopfbahnhof für den Zeitraum von 1938 bis 1988 belegt, um deutlich zu machen: Es gab Zeiten mit doppelt so hoher Auslastung des Kopfbahnhofs wie Anfang der 1990er Jahre. Es gehe, so unsere Bilanz, bei Stuttgart 21 allein um ein gigantisches Spekulationsprojekt - um die Bebauung der rund 70 bis 100 Hektar Gleisanlagen.

Brandgefährliches Unternehmen

Wobei die neuen Gleisanlagen auf Steuerzahlerkosten in den Untergrund verlegt werden sollen, was wegen der Bodenbeschaffenheit (Anhydrit!) und wegen der dann zu bewältigenden Steigungen beziehungsweise des Gefälles (15 Promille selbst im Bahnhofsbereich) und nicht zuletzt wegen des nicht vorhandenen Bandschutzkonzepts im Wortsinn ein brandgefährliches Unternehmen sei.

Teil des Widerstands gegen Stuttgart 21 waren im Zeitraum von 1995 bis 2011 die Grünen, prominent vertreten durch Winfried Hermann. Und auch wenn die Grünen als diejenige Partei, die seit Frühjahr 2011 in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten und den Verkehrsminister stellt, in den vergangenen zehn Jahren eine echte Transformation vollzogen haben und Landesvater Winfried Kretschmann sowie Verkehrsminister Winfried Hermann eine erstaunliche politische Umpolung: Bis vor wenigen Tagen hätte ich mir nie und nimmer vorstellen können, was jetzt mit dem Koalitionsvertrag von "Grün-Schwarz" dokumentiert wird. Die alte und neue Landesregierung will nicht nur Stuttgart 21 mit all seinen Absurditäten, Abnormitäten und Auswüchsen weiter bauen. "Grün-Schwarz" plant noch ein zweites Stuttgart 21.

Wie das? Und: Warum gibt es keinen diesbezüglichen Aufschrei in den bundesdeutschen Medien? Fragen über Fragen.

Blättert man im Koalitionsvertrag bis auf Seite 124, dann ist dort zu lesen:

Wir wollen in einem ständigen Prozess den Eisenbahnknoten Stuttgart für die Anforderungen weiterer Angebotssteigerungen in künftigen Jahrzehnten […] zukunftsfähig machen. Wir vereinbaren daher eine Initiative 'Eisenbahnknoten Stuttgart 2040' […] Wir setzen uns aktiv für weitere Ergänzungen ein. […] Dazu gehören die Ergänzungsstation und ihre Zuläufe" [und der] "Ausbau der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahntunnel zum Flughafen.

(Koalitionsvertrag "Jetzt für morgen - Der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg", S. 124)

Wenn bei diesen Formulierungen der Sprengsatz noch versteckt und die Sprache verklausuliert ist, so konnte man das deutlicher in der Stuttgarter Zeitung wie folgt ausgeführt lesen.

Vor der Koalitionsbildung im Land zeichnet sich eine für Stuttgart und Region spektakuläre Entwicklung ab. […] Neben dem achtgleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof in der Stuttgarter Innenstadt soll ein Ergänzungsbahnhof als bis zu sechsgleisiger Kopfbahnhof gebaut werden, für den sich […] vor allem Winfried Hermann stark gemacht hatte. […] Der Kopfbahnhof im Untergrund […] wäre bei sechs Gleisen 210 Meter lang und 60 Meter breit. […]

Er würde direkt an den S21-Durchgangsbahnhof andocken. Die zuführenden Gleise will man in Tunnel legen, damit die von der Stadt geplante Bebauung auf den frei werdenden Gleisflächen möglichst wenig behindert wird. […] Außerdem soll die neue Landesregierung auch den Bau eines Gäubahntunnels am Flughafen angehen.

(Stuttgarter Zeitung vom 3. Mai 2021)

All das ist spektakulär. Und dies auf fünf Ebenen:

1. Kostenexplosion: Die Kosten für das Gesamtprojekt Stuttgart 21 erhöhen sich um offiziell weitere 1,6 Milliarden Euro, realistisch gerechnet sind es mehr als 3,5 Milliarden Euro. Das gesamte Projekt S21 wird damit um 15 bis 20 Milliarden Euro teuer. Im Schwabenland wird das größte und teuerste Infrastrukturprojekt Deutschlands gebaut. Wobei sich die Verfasser des Koalitionsvertrags an das schwäbische Motto "Mr gäbet nix" halten und in den Vertrag hineindiktierten, dass die neuen Projekte "ohne Zusatzkosten für das Land" umzusetzen und "durch den Bund" zu finanzieren seien.

2. Dauergroßbaustelle: Die Bauzeit des Gesamtprojekts verlängert sich um mindestens ein Jahrzehnt und weit über das Jahr 2040 hinaus. Für die beiden neuen Großprojekte "Ergänzungsbahnhof" und "Gäubahn-Tunnel" gibt es ja noch nicht einmal genaue Planungen, geschweige denn ein Planfeststellungsverfahren. Grün-Schwarz mutet der Stuttgarter Bevölkerung eine Großbaustelle im Zentrum der Landeshauptstadt mit bis zu vier Jahrzehnten Bauzeit zu.

3. Offenbarungseid: Mehr als zwei Jahrzehnte lang behaupteten die Deutsche Bahn, die Bundesregierung und CDU, FDP und SPD, mit Stuttgart 21 - dem achtgleisigen Durchgangsbahnhof im Untergrund - käme es zu einer Vergrößerung der Schienenkapazität im Vergleich zum bestehenden Kopfbahnhof mit 16 Gleisen. Gleichzeitig wurde behauptet, die Konstruktion eines Kopfbahnhofs sei veraltet; nur ein Durchgangsbahnhof komme als Ersatz in Frage. Jetzt gibt es den doppelten Offenbarungseid: Stuttgart 21 ist zu klein - nach mehr als zehn Jahren Bauzeit wird erkannt: man braucht sechs weitere Gleise. Und: Die "Erweiterungsstation" soll ein Kopfbahnhof sein.

4. Tunnelbauwahn: Teil des Projekts Stuttgart 21 sind in der bisherigen Planung mehr als 50 Kilometer Tunnelbauten. Jetzt sollen weitere Tunnelbauten in vergleichbarer Länge, darunter der "Gäubahn-Tunnel"2 mit 24 Kilometern Tunnelröhren hinzukommen. Es gibt dann keine vergleichbar große Stadt in der Welt, in deren Untergrund es derart viele Tunnel - insgesamt mehr als 100 Kilometer lang - gibt. Wobei Tunnelbauten ein aktiver Beitrag zur Klimazerstörung sind. Die Treibhausgas-Emissionen je Tunnel-Kilometer werden auf 15.000 Tonnen geschätzt.

Für den gewaltigen S21-Untergrundbahnhof kommt eine gute Million Tonnen Treibhausgase hinzu. Die bis Anfang 2021 geplanten Tunnelbauten wurden in einer von dem Verkehrsplaner Rößler erstellten Studie auf 1,9 Millionen Tonnen geschätzt. Die im Koalitionsvertrag festgehaltenen Zusatzbauten sind mit weiteren mehr als einer Million Treibhausgasemissionen (u.a. für den Einsatz von Stahl und Beton) verbunden. Zum Vergleich: Alle in Stuttgart zugelassenen Pkw stoßen im Jahr rund 900.000 Tonnen Treibhausgase aus. Vor dem Hintergrund des Karlsruher Klima-Entscheids und einer von den Grünen angeführten Landesregierung sind dies verstörende Perspektiven.

5. Panoramabahn-Wortbruch: Der grün-schwarze Koalitionsvertrag enthält die Orwellsche Formulierung: "Ausbau der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahn-Tunnel zum Flughafen." In Wirklichkeit geht es um das Gegenteil - den Abbruch einer weltberühmten Bahnstrecke exakt an der Stelle, wo diese besonders attraktiv ist. Der neue zehn Kilometer lange "Gäubahn-Tunnel" mag rein quantitativ nicht allzu relevant sein. Es handelt sich jedoch um eine neue Qualität - vergleichbar derjenigen, die mit der weitgehenden Zerstörung des bestehenden Kopfbahnhofs, des Bonatz-Baus - einem Wahrzeichen der Stadt Stuttgart - verbunden ist.

Bei der vor 142 Jahren erbauten Gäubahn handelt es sich um eine Zugverbindung zwischen Stuttgart und Singen und weiter bis Zürich. Das war mehr als ein Jahrhundert lang eine wichtige Magistrale, auf der Züge zwischen Berlin und Italien verkehrten. Dass die Bahnstrecke zwischen Horb und Tuttlingen nur eingleisig ist, ist ein Kuriosum. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die französische Besatzungsmacht ein Gleis abbauen - wohl als Wiedergutmachung für einen vergleichbar großen Gleisabbau, den die deutsche Besatzungsmacht in den Jahren 1942 bis 1944 zwischen Belfort und Becancon vornahm. Dass die Bundesbahn bzw. die Deutsche Bahn AG in einem Dreivierteljahrhundert Nachkriegszeit nicht in der Lage waren, diesen Flaschenhals zu beseitigen, ist typisch für die Misere des Schienenverkehrs hierzulande.

Geschichtsträchtige Gäubahn

Diese Gäubahn geht, von Zürich und Horb kommend, auf den letzten Kilometern im Vorfeld von Stuttgart in die sogenannte Panoramabahn über. Es handelt sich um eine wunderschöne Bahnstrecke, die ab Vaihingen durch den Dachswald, über die Höhen von Heslach und den oberen Teil des Stuttgarter Westens bis zum noch bestehenden Stuttgarter Kopfbahnhofs führt. Ich gestehe, dass ich auf meinen langen Bahnfahrten - abgesehen vom Corona-Jahr 2020 sind es seit 1986 immer gut 40.000 Bahnkilometer im Jahr - eher selten Blicke auf die Landschaft werfe. Doch die Panoramabahn ist ein Bahnabschnitt, bei dem mir, immer auf der "richtigen" Seite im Zug sitzend, buchstäblich das Herz aufgeht.

Diese Strecke ist derart historisch "belastet" und sie wird zu Recht als ausgesprochen romantisch betrachtet und im Film festgehalten3, dass auch Heiner Geißler dem Tribut zollen musste. Als dieser am 30. November 2010 seinen fatalen, selbstherrlichen "Schlichterspruch" zu Stuttgart 21 verkündete und sich dabei grundsätzlich für den Bau von Stuttgart 21 aussprach, formulierte er eine Reihe begleitender Maßnahmen, die auch bei Realisierung von Stuttgart 21 einzuhalten sein würden. Punkt 3 dieser Anforderungen lautete schlicht: "Die Gäubahn bleibt erhalten." Ausführlicher hieß es dazu, dieser Streckenabschnitt solle "auf Stuttgarter Stadtgebiet erhalten bleiben und über den Bahnhof Feuerbach an den Tiefbahnhof angebunden" werden.

Längere Fahrzeit von Zürich nach Stuttgart

Doch auch dies wird nicht verwirklicht. Stattdessen soll die Gäubahn noch im Vorfeld von Vaihingen faktisch enden, in den erwähnten Gäubahn- (oder Bilger-) Tunnel verschwenkt werden, nach zwölf Kilometern Tunnelstrecke zum Flughafen von Stuttgart geführt - und von dort in einem weiteren Tunnel - dem Fildertunnel - zum S21-Tiefbahnhof geleitet werden. Die Fahrtzeit von Zürich nach Stuttgart wird sich damit erheblich verlängern.

Vor allem wird der Schienenverkehr damit um eine Attraktion beraubt werden. Warum? Längere Fahrtzeiten, gigantische zusätzliche Tonnen Treibhausgase, Milliarden Euro zusätzliche Steuergelder. Und ein Ergebnis, bei dem nicht einmal die bestehende Kapazität des Kopfbahnhofs erreicht werden wird. Wobei am Ende ein grüner Verkehrsminister in Stuttgart ab Oktober 2021 mit einem grünen Verkehrsminister in Berlin darüber verhandelt, aus welchem Topf man neues Steuergeld dem alten Steuergeld hinterherwerfen will.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 -Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. 2019 erschien in 3. Auflage sein Buch "abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands" (PapyRossa, 350 Seiten). Wolf organisierte maßgeblich die 150.000-Euro Finanzierung für die Skulptur "Schwäbischer Laokoon", die der Bildhauer Peter Lenk schuf und die seit dem 25. Oktober 2020 vor dem Stadtpalais in Stuttgarts Zentrum steht - an die "groteske Entgleisung" Stuttgart 21 erinnernd. Zum drohenden Abbau der Skulptur durch die Stadt unter dem neuen CDU-OB Nopper im Juni 2021 siehe: www.lenk-in-stuttgart.de

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