Apropos Virus

Zur Debatte "Die Republik auf allen Viren": Worüber Soziologen sprechen, wenn sie von Corona reden (Teil 1)

Der wortspielende Titel der 49. Frankfurter Römerberggespräche Ende Mai stand für ihren unvermeidlichen Gegenstand. Dass die geladenen Gesellschaftswissenschaftler die Corona-Krise zum Anlass nahmen, ihre Ansichten dazu vorzutragen, ist weder verwunderlich noch kritikabel. Auf das, was da überwiegend präsentiert wurde, treffen beide Adjektive allerdings zu.

Von den entsprechenden Referenten war nämlich mehr über bürgerliche Wissenschaft zu erfahren als von ihr, was zur Folge hatte, dass die Auskünfte zur Pandemie und zu ihrer politischen Bewältigung überwiegend in akademischer Verfremdung daherkamen. Dazu ein Kommentar, der das mündlich Vorgetragene der Einfachheit halber meist sinngemäß und zusammenfassend zitiert, welches bei Bedarf auf YouTube jederzeit nachzuhören ist.1

Struktureller Eigensinn

Der Münchener Soziologe Armin Nassehi, auch beratend für zwei Landesregierungen tätig, widmete sich den Problemen, die das Virus aus seiner Sicht dem System Gesellschaft und ihren Subsystemen bereite. Für das ökonomische System sei es schwierig, das politische zu sachorientierten Entscheidungen zu bewegen, und die "Sachdimension" selbst sei oft unklar. Die Politik handle unentschlossen und habe es nicht geschafft, nach dem ersten Lockdown den absehbaren zweiten angemessen vorzubereiten und durchzuführen, weil angeblich der "gesellschaftlichen Alltags- und Gegenwärtigkeit-Orientierung" nachgegeben wurde.

Die Erkenntnisse des Wissenschaftssystems ließen sich nicht einfach in Handlung übersetzen, und Sacherklärungen produzierten noch keine Massenloyalität. Zwar gebe es eine kollektive Herausforderung, aber es fehlten die kollektiven Antworten.

Der Sache nach berühren solche Fragen die Widersprüche, die die Pandemie in einer Marktwirtschaft und bei der staatlichen Krisenbewältigung hervorbringt. In der marktverfassten Demokratie verleiht der Staat seinen Erwerbsbürgern das Recht, sich in lauter Gegensätzen zueinander um ihr Ein- und Auskommen zu kümmern.

Diesen geldvermehrenden Zusammenhang, aus dem auch er sich finanziert, bricht der Staat pandemiebedingt dadurch auf, dass er der Volksgesundheit Rechnung tragen muss. Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Mieter und Vermieter, Käufer und Verkäufer u.a. reklamieren ihn daher umso mehr und zugleich als Schutzmacht ihrer Einkommensquellen, ihrer Gesundheit und ihrer Rechte.

Keines dieser Anliegen ist dem Staat fremd, er hat sie ja lizenziert, sie stehen jetzt nur in besonderem Widerspruch zueinander, sodass er sich notwendig zwischen ihnen Hin und Her bewegt, ihnen wechselweise nutzt und schadet.

Das beschert ihm einen allgemeinen Ruf nach besserer Herrschaft, in der die bürgerlichen Anliegen aufgehen sollen, in dem sich also die untertänige Unzufriedenheit meldet. Diese Skizze des Nachdenkens über die widersprüchliche Pandemie-Lage soll an dieser Stelle genügen.2

Aus soziologischer Sicht stellt sich diese ganz anders dar. Nassehi erklärt selbstbewusst, dass ihn die von ihm aufgezählten Probleme "differenztheoretisch" überhaupt nicht wundern, und er belächelt ein wenig, Bourdieu zitierend, die "scholastische Vernunft", mit der andere Gesellschaftswissenschaftler vermeintliche Lösungen finden. Sein Erklärungsangebot sei der "Eigensinn", die "Trägheit der Struktur gegenüber Veränderungen" - ein allgemeines Prinzip, das er aus Anlass von Corona auf den Namen "gesellschaftliche Immunreaktion" getauft hat.

Diese Bestimmung ist abstrakt genug, um unter sie sogar gegenteilige Phänomene zu subsumieren. Die Corona-Leugner, die keinen Änderungsbedarf der Gegenwärtigkeit sähen, seien laut Nassehi in das gleiche "Fieber" geraten wie die Befürworter einer Änderung der gesellschaftlichen Praxis, die das Virus stoppt und den Alltag restauriert. Beide "Immunantworten" wiesen auf eine identische "Funktion" hin, eben auf den strukturellen Eigensinn, der eine "Aufrechterhaltung von Konsistenz" erstrebe.

Und in dieser soziologischen Denkfigur kennt sich ihr Urheber aus. Sie führe notwendig "Zielkonflikte" herbei, die "nicht in einer Form von Kollektivität aufzuheben" seien. (Die Gründe dafür, die der Laie in gegensätzlichen ökonomischen Interessen suchen mag, findet der Experte in der "funktionellen Differenzierung der Gesellschaft".) Die Politik habe zwar die "Funktion, kollektiv bindende Entscheidungen zu ermöglichen" (eine akademische Redensweise, die von politischen Zwecken und staatlicher Souveränität gründlich abstrahiert). Wenn die Regierung die Gesellschaft aber wie eine "Organisation" behandle, liege sie falsch.

Die Gesellschaft, wie der Soziologe sie kennt, sei "keine Entität mit einem entscheidungsfähigen Zentrum" (sodass man sich fragt, was die Herrschaften in der Hauptstadt eigentlich tun). In der soziologischen Parallel-Gesellschaft sind auch die Politiker in der Trägheit ihres Subsystems verfangen und müssen vom einen Lockdown zum nächsten ihre "Funktion" in Form von Wahlchancen wahren.

Wenn Nassehi also solche Expertise auch politikberatend vorträgt, sehen sich die Landesregierungen mindestens darin gewürdigt, dass sie einem höchst anspruchsvollen und oft undankbaren Dienst nachkommen. Und falls diese Soziologie auch die Untertanen erreicht, dürfen die sich ihre Unzufriedenheiten als Immunreaktion auf strukturelle Veränderung zurechtlegen.

Kommunikatives Geschehen

Was Nassehi der Eigensinn, ist seinem Bonner Kollegen Rudolf Stichweh die Kommunikation, wozu auch er akademisch ein wenig ausholen muss. Er konstatiert eine "Dysbalance im Wissenssystem", die im Fall von Corona darin bestehe, dass man "die Sozialwissenschaft den Physikern überlassen" habe, weshalb sich jetzt die Frage stelle, ob das soziologische Dahinter der Pandemie überhaupt bekannt sei. Wer nach eineinhalb Covid-19-Jahren so fragt, wird wissen, warum.

Das, was Stichweh im Auge hat, ist naturwissenschaftlich gar nicht auffindbar. Er will die Virusübertragung nämlich wesentlich als "kommunikatives Geschehen" betrachten, für das den Modellierern der Sinn fehle. Weil die aber den Ton angäben, während "die Transmission der Krankheit unseren Kommunikationsstrukturen folg(e)", hätten wir diese nicht studiert. Deshalb wüssten wir auch nicht, warum uns der "Schutz der alten Population misslungen" sei.

Der Sache nach gibt es darauf zwar medizinische wie ökonomische Antworten, die im Fall der Altenheime bei der fehlenden Schutzkleidung und der Überarbeitung des Personals anfangen. Aber auch Stichweh kann ein Stück verrätselte Welt zur Platzierung seines akademischen Reims gebrauchen.

Gemessen an der Herleitung fallen die vorgeschlagenen praktischen Konsequenzen dann bodenständiger aus. Man solle "auf die Straßen und in die Wohnungen schauen" oder den Moment identifizieren, wo die infektiöse Aldi-Verkäuferin hinterm Plexiglas hervorkommt, "um der alten Dame beim Einpacken zu helfen". Manchmal müssen eben leichtere Beispiele einen tieferen Gedankengang plausibel machen.

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