Warum wir alle dem Fußball verfallen sind

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Spiegel des Zeitgeistes, Brennglas der Kultur: Überlegungen vor dem ersten EM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft. Am Ende gewinnen die Deutschen?

Man kann die Pandemie als eine Art Labor nehmen, in dem erprobt wird, inwieweit die digitale Welt die reale Welt ersetzen kann. Zu großen Teilen hat sie das getan und wird es weiter tun. Aber unabdingbar zeigt sich zugleich, dass die Sehnsucht nach dem Analogen, nach dem Plastischen, nach dem Dreidimensionalen umso größer wird. Beides muss leben können. Das eine geht nicht auf Kosten des anderen.

Horst Bredekamp

Heute werden wieder Millionen vor den Fernsehbildschirmen und gemeinsam beim Public Viewing den Europameisterschafts-Auftakt der deutschen Nationalmannschaft verfolgen. Das Aufeinandertreffen der deutschen mit der französischen Nationalmannschaft, die Weltmeister ist, Turnier-Favorit und im Augenblick die vermeintlich beste Mannschaft der Welt, ist eine Traumkonstellation. Hoffen wir, dass es auch ein traumhaftes Spiel wird.

Was sehen wir, wenn wir Fußball sehen? Natürlich gibt es Leute, die Fußball nicht interessiert. Natürlich gibt es Leute, die glauben, sie seien gegen Fußball immun. Aber mit der Immunität ist es auch hier so eine Sache. Denn wer ohne zehrende Anstrengungen immun sein mag gegen die Verführungskräfte eines Phänomens, der ist es noch lange nicht gegen die Auswirkungen. Im Fall des Fußballs versagt man sich zudem die Gelegenheit, etwas über die Gesellschaft, in der man lebt, also über sich selbst zu erfahren.

Denn das "Wir", wir alle, das ist die Gesellschaft. Und unsere Gesellschaft ist dem Fußball verfallen: Ästhetisch, politisch, ökonomisch.

Wenn wir Fußball sehen, dann sehen wir selbstverständlich einen Auftritt, eine Performance. Das hat zunächst einmal völlig unabhängig davon, mit welcher Mannschaft man es hält, aber erst recht, wenn man nicht unparteiisch und distanziert zuschaut, etwas hochgradig Befriedigendes. Es ist Schönheit im Augenblick, Schönheit, die sich ereignet, die nur im Hier und Jetzt stattfindet und die sich deswegen über die Aura und die Anmut eines unwiederbringlichen Moments mitteilt.

Der ästhetische Reiz, die Schönheit und Faszination des Fußballs liegt im Zusammenspiel der widersprüchlichen Elemente Organisation und Chaos. Die Organisation ist die einer möglichst gut eingespielten Mannschaft, das Chaos liegt im Aufeinandertreffen mit der gegnerischen Organisation.

Hochleistungsteams: Aufführung von Effizienz, Nervenstärke, Flexibilität...

Zugleich erleben wir im Fußball somit eine Aufführung eines Miteinander. Wir erleben, dass der Einzelne nicht alles ist, dass er zählt als Teil einer mitmenschlichen Ordnung, in der es sehr wohl Hierarchien gibt und Aufgaben, die zu lösen oder zu erfüllen sind. Wir sehen Menschen, die zu einem Team geformt sind, in diesem Fall zu einem Hochleistungsteam, das extrem spezialisiert auf die Erfüllung bestimmter Aufgaben ausgebildet, trainiert und zusammengestellt ist.

Ein solches Hochleistungsteam kann nicht nur jede Sportmannschaft sein, es kann genauso das Operationsteam in einem Krankenhaus sein, Rettungssanitäter, aber auch das Team eines Küchenchefs, eine militärische oder polizeiliche Einheit. Das Beispiel des Forschungsteams in einer wissenschaftlichen Einrichtung passt weniger, denn ein Hochleistungsteam steht unter extremen Zeit- und Raumdruck: Jetzt und hier ist die Spitzenleistung zu bringen, auf begrenztem Raum und innerhalb eines engen Zeitmaßes.

Fußball ist die Aufführung und Vorführung eines solchen Team-Spiels an sich, und einiger der Prinzipien, die jedem Team-Spiel und jedem Hochleistungsteam zugrunde liegen: Effizienz, Nervenstärke, Flexibilität, intuitives Beherrschen schwieriger und lang zu erlernender Bewegungsabläufe. Sie werden im Fußball stellvertretend und in großer Klarheit aufgeführt - jeder wer zuschaut kann und wird davon lernen. Und als gesellschaftliches Wesen davon ergriffen.

Als ob ein Stromstoß durch die Mannschaft geht...

Denn was auf dem Platz stattfindet, das erfasst auch diejenigen, die zusehen. Es gehört zum Interessantesten: Dass es immer wieder Momente im Fußball gibt, in denen sich das Spiel, überraschend, aber für alle erkennbar grundsätzlich verändert. Es ist eine psychologische Bewegung im Spiel von, die von einem Moment auf den anderen stattfindet.

"Man kann es nicht begründen. Als wären die Seelen mit Bändern verbunden - ein Umschlag! Und es beginnt etwas Neues", so fasste es am Wochenende der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp in einem großartigen Gespräch zusammen, das er mit dem Sport-Philosophen Gunter Gebauer im Deutschlandfunk zur Sehnsucht nach Präsenz in Kunst und Sport führte, und das im Rahmen einer Langen Nacht gesendet wurde.

"Als ob ein Stromstoß durch die Mannschaft geht. Manchmal ist es ein Spieler, der den Anfang macht Punkt und plötzlich laufen sie anders, positionieren sich anders." ergänzte Gebauer den Gesprächspartner, "Als Zuschauer ist man ja nicht nur dabei, sondern, wenn es die eigene Mannschaft ist, ist man selber erfasst davon."

Vom Fassen des Unfassbaren: Die Rolle des Spiels in der Epoche der Vernunft

Fußball ist Spiegel des jeweiligen Zeitgeistes, zugleich aber auch Brennglas der Kultur und Gesellschaft, in der deren jeweilige Eigenheiten kristallklar kenntlich werden. Er ist Teil eines jeden menschlichen Systems, zugleich in einer kapitalistischen und marktliberalen Gesellschaft notwendig Teil und Spiegel der kapitalistischen und marktliberalen Kultur.

In der Epoche der Vernunft und der durchrationalisierten, zugleich deregulierten Gesellschaft, bedeutet auch Fußball etwas Widersprüchliches: Er zeigt uns die Gesellschaft als Möglichkeitsgesellschaft, als Chancengesellschaft, in der jeder "es schaffen" kann, und inszeniert somit den marktliberalen Traum der Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär, vom Slumkid aus der Dritten Welt zur Jet-Set-Celebrity; ein Traum, der keine bloße Ideologie ist, weil er ja tatsächlich wenn auch nur äußerst selten realisiert wird.

Zugleich macht es den besonderen Reiz des Fußballs so aus, dass immer alles möglich ist. Nicht wahrscheinlich, aber möglich. Der FC St. Pauli kann den FC Bayern schlagen und hat dies auch schon getan. Algerien kann Deutschland besiegen.

Zusammen mit diesem "Möglichkeitssinn" (Robert Musil) inszeniert Fußball auch den Wirklichkeitssinn, die Tatsache, dass einem nichts geschenkt wird in dieser Gesellschaft, dass man etwas können muss, um in ihr Erfolg zu haben. Dass man sich durchsetzen muss, dass aber auch Glück dazu gehört.

Vor allem aber inszeniert Fußball die Tatsache, dass sich am Ende in den allermeisten Fällen die stärkeren, die mächtigeren, die reicheren durchsetzen. Bayern München wird neunmal hintereinander Deutscher Meister, Gasprom, Dubai, VAE und Konsorten bestimmen die Champions League, Katar kauft die WM, Italien, Spanien, Frankreich machen die internationalen Titel unter sich aus, und lange galt wie in der Automobilwirtschaft: "am Ende gewinnen die Deutschen" (Gary Linecker, Philosoph).

Am Ende gewinnen die Deutschen?

Wie wird es heute sein? Fußball ist ein Sport der Momente. Es waren ganz wunderbare Augenblicke und man ist froh, dass man dabei gewesen ist. Große, also besondere, außergewöhnliche Sportmomente sind wie die Begegnung mit dem Original in der Kunst, und man ist froh, es einmal erlebt zu haben. Es ist etwas, das einen anzieht, etwas, das einen lebenslang begleitet.

Vielleicht hält der heutige Tag wieder solche Momente bereit. Am Ende gewinnen die Deutschen? "Schaung mar amoi, na sengma’s scho" (Franz Beckenbauer)