Kommentar: Die Wahrheit hinter dem Fall Franziska Giffey

Was der Entzug eines Doktortitels mit den prekären Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses zu tun hat.

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Franziska Giffey

Ex-Familienministerin und jetzt Berliner Bürgermeisterkandidatin Franziska Giffey (SPD).

(Bild: dpa, Christoph Soeder)

Lesezeit: 3 Min.

Die Freie Universität Berlin hat Franziska Giffey den Doktorgrad entzogen. Sind also Lug und Trug – der Versuch, sich mit Hilfe von Filz und Mauschelei einen Titel zu erschleichen, der eigentlich die "Befähigung eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit" belegen sollte – erneut erfolgreich abgewehrt worden? Ist die neue Kerbe im Messergriff der Plagiatsjäger ein Sieg für die Integrität der Wissenschaft? Oder ist die Affäre Giffey, wie Kester Schlenz im Stern schreibt, nur ein weiterer Sieg der Korinthenkacker?

Ganz so einfach und geradlinig ist die Frage leider nicht zu beantworten. Wie vielschichtig das Problem ist, kann man schon alleine daran sehen, dass Deutschland eines der wenigen Länder ist, in denen der Doktorgrad in Pass und Personalausweis eingetragen werden. Die Grünen wollten die Eintragung des Doktorgrades in Pässe und Personalausweise 2013 abschaffen, um den Doktorgrad "von gesellschaftlichen Überhöhungen zu entlasten", denn "zum Teil wird er wie eine Art bürgerlicher Adelstitel oder Namensbestandteil behandelt".

Stattdessen sollte der Doktor allein wieder zum Ausweis einer wissenschaftlichen Befähigung dienen. Die Idee scheiterte jedoch am entschiedenen Widerstand einiger Bundesländer, die sich unter anderem auf eine "deutschsprachige Kulturtradition" beriefen, akademische Qualifikationen auch in Ausweisdokumenten "sichtbar werden zu lassen".

Dabei hat gerade diese "deutsche Kulturtradition" im 19. Jahrhundert zu einer beispiellosen Korrumpierung der Universitäten geführt. Denn unterfinanzierte Professoren, die sich mit Dissertationsgebühren ein zusätzliches Einkommen verschafften, trafen auf bürgerliche Aufsteiger, die ihren sozialen Status durch Titel aller Art ganz dringend aufbessern mussten. Erst eine Gesetzesreform in Preußen und die Einführung neuer akademischer Grade wie Magister und Diplom machte diesem Treiben ein Ende und ermöglichte den Universitäten, Dissertationen wieder als ernsthafte wissenschaftliche Arbeiten zu verwenden.

Ein Kommentar von Wolfgang Stieler

Nach dem Studium der Physik wechselte Wolfgang Stieler 1998 zum Journalismus. Bis 2005 arbeitete er bei der c't, um dann als Redakteur der Technology Review zu wirken. Dort betreut er ein breites Themenspektrum von Künstlicher Intelligenz und Robotik über Netzpolitik bis zu Fragen der künftigen Energieversorgung.

Was nicht heißt, dass jetzt alles gut wäre. Denn zum einen gibt es in Deutschland eine erhebliche Zahl an "Statuspromotionen". Promotionen, die nicht aus wissenschaftlichem Interesse durchgeführt werden, sondern als Befähigungsnachweis für die Besetzung einer selbstverständlich gut dotierten Führungsposition – "Habedieehreherrdokterrr".

Das wahre Problem des deutschen Promotionswesens aber sind die Bedingungen, unter denen der wissenschaftliche Nachwuchs zu arbeiten hat. Junge Forscherinnen und Forscher protestieren auf Twitter unter dem Hashtag "#IchbinHanna" gerade gegen ein Gesetz, das Zeitverträge für Doktoranden auf maximal sechs Jahre begrenzt. Die so erzeugte Fluktuation bei der Stellenbesetzung soll die "Innovationskraft" der Forschung befördern. In Wirklichkeit fördern die Arbeitsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs allerdings ganz andere Fähigkeiten: Opportunismus zum Beispiel, existentielle Ängste und den dringenden Wunsch, auszuwandern.

Zyniker könnten auf den Gedanken kommen, das sei der akademischen Elite in Deutschland gar nicht so unrecht. Denn die prekären, ungesicherten und chronisch unterfinanzierten Arbeitsverhältnissen garantieren dem deutschen Wissenschaftsbetrieb einen gnadenlos verschärften Wettbewerb. Wer das erfolgreich übersteht, hat Hingabe an die Wissenschaft bis zum Abwinken bewiesen. Man könnte das als den eigentlichen Skandal hinter der Affäre Giffey bezeichnen. Aber solche Zusammenhänge sind komplex und schwer zu vermitteln. Schwerer jedenfalls, als der Verweis auf fehlende Fußnoten.

Fun Fact: Ausgerechnet die eher konservative Konrad Adenauer Stiftung stellt die Frage, ob das Promotionssystem in Deutschland in seiner gegenwärtigen Form noch zeitgemäß ist. Zu Recht!

(wst)