Geschenkte Wahl

"Stimmabgabe: Wählerin wirft Stimmzettel in Wahlurne." Bild (2008): Alexander Hauk, www.alexander-hauk.de

Wenn ein Wähler, der nicht mehr wählen will, seine Stimme jemandem spendiert, der nicht wählen darf. Ein Einwurf

"Jede Stimme zählt!", so trommelt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) zur Teilnahme an der Bundestagswahl. Nur wer zur Wahl gehe, bestimme, wer künftig im Bundestag vertreten sei. Wahlaufrufe und Appelle, traditionelle Rituale in altbekannter Rhetorik. Vielleicht schwingt bei dem Berufspolitiker Schäuble aber doch auch Sorge mit, die Wahlbeteiligung könnte einen unerwarteten Tiefststand erreichen.

Schließlich haben die zwei Corona-Jahre begonnen, dem Land die Demokratie auszutreiben. Bei allzu niedriger Wahlbeteiligung könnte die Legitimität des Bundestags leiden, beziehungsweise was davon noch übrig ist.

Am 26. September können 60 Millionen Menschen den 20. Deutschen Bundestag wählen. Insgesamt 83 Millionen Menschen leben hier. Es stimmt deshalb nicht, wenn Bundestagspräsident Schäuble verlautbart: "Jede Stimme zählt!" Zirka ein Viertel der Menschen in diesem Land hat kein Stimmrecht, ihre Stimmen zählen nicht, weil sie entweder unter 18 Jahre alt oder zugereist sind oder weil sie etwas verbrochen haben. Alles in allem eine Dreiviertel-Demokratie also.

"Wer seine Stimme abgibt, hat nichts mehr zu sagen." Die Welt der Wahlen ist voll von solchen Sponti-Sprüchen, Wort- und Gedankenspielen. Und deshalb sei gleich ein weiteres hinzugefügt: "Diese Wahl ist geschenkt!" Und das im doppelten Sinne:

Seit mehreren Jahren verschenke ich meine Stimme. Ich verzichte auf die Wahl zugunsten von jemand, der in diesem Land lebt, Interessen und Bedürfnisse hat, Steuern zahlt und von den politischen Entscheidungen betroffen ist, aber nicht mitbestimmen darf, weil er zu jung oder zu "fremd" ist. Er bekommt meinen Wahlzettel mit Erst- und Zweitstimme.

Auch bei der jetzigen Bundestagswahl mache ich es wieder so. In den Parlamenten sitzen die immer gleichen Charaktermasken, hört man die dieselben Parolen, erlebt die gleichen durchsichtigen Lügen. Auch die einstigen Spontis sind längst eingemeindet und domestiziert. Mir reicht die Inszenierung. Die Wahl ist geschenkt – so oder so.

Zugegeben, es mag billig erscheinen, auf seine Stimme zu verzichten, wenn sowieso nichts zur Wahl steht. Dass der ein oder die andere doch einen Wert in der Veranstaltung sieht, sei ihnen unbenommen. Meine Stimme ist nicht verloren, sie soll nur jemand bekommen, der gar nicht abstimmen darf. Kein Wahlrecht, obwohl er mitten unter uns lebt und arbeitet, Nachbar ist oder Kollegin. Über 20 Millionen, die in Deutschland nicht wahlberechtigt sind, ein Viertel der Gesellschaft.

Die exklusive Demokratie

Etwa die Zugewanderten. Mehr als fünf Millionen Erwachsene. Wie etwa der türkische Busfahrer, dem Eltern jeden Morgen ihre Kinder anvertrauen und der sie sicher wieder nach Hause bringt, der dieselben Steuern zahlt wie sein deutscher Kollege – warum soll er nicht wählen und mitentscheiden dürfen, wie der Verkehr organisiert wird? Er kennt sich aus und kann das beurteilen. Doch er darf nicht, weil er keinen deutschen Pass besitzt. Er ist ein Kandidat für meine Stimme.

Die unter 18-Jährigen, viele Millionen, sind die größte Gruppe der nicht Stimmberechtigten. Zugleich sind sie am meisten und längsten von den politischen Entscheidungen, die heute gefällt werden, betroffen. Nebenbei und nicht zuletzt sind sie Verbraucher. Mit jedem Kaugummi, den Jugendliche kaufen, zahlen sie Steuern. Doch mitentscheiden, wie sie verwendet werden, dürfen sie nicht.

Die Mehrheit hat beschlossen, das Wahlalter sei 18 plus. Aber warum sollen die Kinder von Bundeswehrsoldaten, die in Auslandseinsätze geschickt werden, nicht mitbestimmen dürfen, ob ihr Papa in den Krieg muss? Sie haben nur einen.

Auch den Wahlausschluss per Richterspruch gibt es, geregelt im Bundeswahlgesetz, Paragraf 13. Von den Wahlen zum Deutschen Bundestag ist demnach ausgeschlossen, wer wegen folgender Straftaten verurteilt wurde:

"Vorbereitung eines Angriffskrieges und Hochverrat gegen den Bund; Landesverrat und Offenbarung von Staatsgeheimnissen; Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten; Wahlbehinderung und Fälschung von Wahlunterlagen; Abgeordnetenbestechung; Sabotagehandlungen an Verteidigungsmitteln oder sicherheitsgefährdender Nachrichtendienst."

Außerdem kann das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht aberkennen, wenn jemand seine Grundrechte verwirkt hat.

Entrechtung qua Gerichtsurteil, Wahlverbot als Strafe. Eine Maßnahme wie aus dem Mittelalter, ohne praktischen Nutzen für die Allgemeinheit, nur in der Absicht verhängt zu erniedrigen und abzuschrecken. Bezogen auf das passive Wahlrecht obendrein eine Entmündigung der Wähler.

Bei der letzten Bundestagswahl waren außerdem noch Menschen mit einer physischen oder psychischen Behinderung ausgeschlossen, für die ein Betreuer bestellt war, sowie alle, die strafrechtlich in einem psychiatrischen Krankenhaus zwangsweise untergebracht waren.

Bundesweit hochgerechnet eine fünfstellige Zahl von Personen. Ihre Diskriminierung hat das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 allerdings für verfassungswidrig erklärt. Die exklusive Demokratie wurde – um diese Personengruppe bereinigt – noch etwas inklusiver.

Überhaupt: Warum nicht "One man one vote"? Jedem Mensch eine Stimme. Jedem, ohne Ausnahme, von Geburt an. Auch Babys und Kinder haben Bedürfnisse, Jugendliche sowieso, denen politisch Rechnung getragen werden müsste. Ausgeübt würde das Stimmrecht für Kinder und Kleinkinder natürlich von denjenigen, die für sie verantwortlich sind – den Eltern eben.

Eine dreiköpfige Familie hätte demnach drei Stimmen. Und warum soll eine siebenköpfige Familie nicht sieben Stimmen haben? Schließlich muss die Infrastruktur für alle sieben organisiert sein und nicht nur für die zwei Erwachsenen. Bei einer der letzten Wahlen bekam mein Stimmzettel eine alleinerziehende Mutter.