Verleumdungen und Zuspruch, Hetze und Aufbruchsstimmung

Foto: Ramon Schack

SPD-Wahlkampf in Berlin-Friedenau: Orkan Özdemir und Kevin Kühnert

Orkan Özdemir, der SPD-Kandidat für das Berliner Abgeordnetenhaus in Berlin Friedenau, betreibt zusammen mit seinem Parteifreund Kevin Kühnert, der im gleichen Wahlkreis für den Bundestag kandidiert, Wahlkampf.

Özdemirs Wahlkampf ist geprägt von Höhen und Tiefen, von Verleumdungen und Zuspruch, Hetze und Aufbruchsstimmung. Gleich zu Beginn war er Opfer von Drohungen und xenophober Beleidigungen, die sich vom Internet inzwischen auf das Beschmieren seiner Wahlplakate verlagert haben.

Berlin-Friedenau, an der Rheinstraße, Ecke Schmargendorfer Straße hat die SPD einen Wahlkampfstand errichtet. Am 26. September sind die Bewohner der Hauptstadt, neben dem Bundestag, auch zur Wahl eines neuen Abgeordnetenhauses aufgerufen.

Orkan Özdemir, 37, Direkt-Kandidat seiner Partei für das Abgeordnetenhaus, sucht das Gespräch mit den vorbeieilenden Passanten. Das Interesse hält sich in Grenzen, obwohl Özdemir einen prominenten Wahlkampfhelfer an seiner Seite hat, den stellvertretenden SPD-Bundes-Vorsitzenden Kevin Kühnert, der im gleichen Wahlkreis für den Bundestag kandidiert, ebenfalls als Direkt-Kandidat.

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Özdemir hält einem Jugendlichen seinen Flyer entgegen, auf dem er sich als "Brückenbauer" präsentiert. Der Jugendliche lehnt ab, ruft stattdessen "CDU!" ohne die Aussage weiter zu konkretisieren. "Du kannst mich ja trotzdem wählen, mit der Erststimme, hier im Wahlkreis", entgegnet Özdemir -noch häufiger an diesem Samstagvormittag, von der Hoffnung getragen, auch SPD-Nichtwähler zur Stimmabgabe zugunsten seiner Person zu motivieren.

Kevin Kühnert fällt nicht weiter auf

Kevin Kühnert wirkt nicht gerade als Magnet, steht eher unbeteiligt etwas abseits vom Stand. Trotz seiner Prominenz und permanenten Talk-Show-Präsenz wird Kühnert von den Passanten kaum wahrgenommen oder erkannt. Ein junger Mann in Jogginghose und Kapuzen-Pulli nähert sich dem Stand, ein seltenes Bild an diesem Vormittag, bittet um Wahlkampf-Informationen und sucht das Gespräch mit Özdemir.

Der SPD-Interessent, der sich als Adrian vorstellt, als 24-jähriger Security-Mitarbeiter, verkörpert so etwas wie das verlorengegangene Wählerpotential der SPD. Es sprudelt förmlich aus dem jungen Mann heraus, der sich nach Veranstaltungen erkundigt, nach Info-Material, sowie nach den Kosten einer SPD-Mitgliedschaft. "Ich bin der Direkt-Kandidat für das Abgeordnetenhaus", erklärt Orkan Özdemir. "Mich kannst Du mit der Erststimme für das Abgeordnetenhaus wählen, den Kevin für den Bundestag!"

Der junge Mann schaut ungläubig in Richtung des erwähnten, der sich jetzt im Gespräch mit einem Fahrradfahrer befindet. "Das ist Kevin Kühnert, der aus dem Call-Center?" Betretenes Schweigen setzt ein. Adrian redet weiter, berichtet von prekären Arbeitsverhältnissen, vom Mindestlohn, von Kollegen, die gar nicht wählen oder AfD.

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Worte, zentnerschwer, die die meisten der anwesenden SPD-Wahlkämpfer - überwiegend Akademiker- oder in akademischen Ausbildungen befindlich - höchstens aus der Theorie her kennen. Özdemir reicht dem jungen Mann seine Kontaktdaten, bittet ihn darum, sich zu melden. "Ich finde es wichtig, SPD zu wählen!", sagt Adrian zum Abschied, so als suche noch einmal Bestätigung für seine politische Orientierung.

Die Szene, an diesem wolkenverhangenen Samstag-Vormittag in Berlin-Friedenau, verkörpert vielleicht das Dilemma, ja die Tragik der ehemaligen Volkspartei SPD, die ihre Stammwählerschaft verloren hat, ohne eine neue hinzugewonnen zu haben, ein Schicksal, das sie mit vielen Mitte-Links-Parteien in der westlichen Welt teilt.

Orkan Özdemir gönnt sich eine kurze Pause, während sich am Stand ein Arzt und Vater zweier Kinder über die SPD-Bildungspolitik beschwert. Kevin Kühnert gesellt sich hinzu, die beiden Kandidaten besprechen kurz einige Abläufe, gehen den gemeinsamen Terminkalender durch. Unbemerkt werden Sie dabei von einem älteren Mann beobachtet, der seine Ehefrau auf Kühnert aufmerksam macht "Kiek Mal, dit ist der aus dem Fernsehen, wa."

Özdemir und Kühnert, zwei SPD-Kandidaten unterschiedlichster Provenienz

Kevin Kühnert lehnt eine angebotene Zigarette ab, verweist stolz auf die Tatsache, dass er seit einigen Wochen Nichtraucher ist. Özdemir kennt er schon seit vielen Jahren, die beiden Politiker sitzen für die SPD gemeinsam in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Schöneberg.

Während Kevin Kühnert ziemlich sicher in den Bundestag einziehen wird, muss Özdemir um jede Stimme für seinen Sitz im Abgeordnetenhaus kämpfen. Während Kevin Kühnert als Sohn von Beamten im Süden Berlins aufwuchs, wurde Orkan Özdemir in seiner Kindheit vom rauen Schöneberger Norden geprägt.

Während Kühnert zwei Studiengänge begann, aber nicht beendete, musste sich Özdemir den sozialen Aufstieg erkämpfen, machte als Jugendlicher Erfahrungen mit Polizeigewalt, verdiente sich sein Geld durch harte körperliche Arbeit, bis er schließlich-nach einem einjährigen USA-Aufenthalt, in dem er beinahe eine Laufbahn als Profi-Fußballer eingeschlagen hätte, sein Studium in Berlin begann, welches er mit Auszeichnung als Diplom-Politologe abschloss.

Ich würde mich wahrscheinlich nicht als "Sozialist" bezeichnen, wie Kevin, vielleicht deshalb, weil ich einen anderen Blick auf die Gesellschaft und unser politisches System habe, aber natürlich gehöre auch ich eher zum linken Teil der SPD, wenn man es so bezeichnen möchte.

Orkan Özdemir

Klaviatur der identitätspolitischen Debatte

Verfolgt man Özdemirs Wahlkampf in den sozialen Netzwerken, erlebt man einen Politiker, der die Klaviatur der identitätspolitischen Debatte perfekt beherrscht und verwendet. Er selbst benutzt die Begriffe "PoC", auch für sich selbst, gendert, legt Bekenntnisse ab gegen jegliche Form von Diskriminierung und Ausgrenzung, agiert wie ein "Lifestyle-Linker", wie Sahra Wagenknecht jene Vertreter des "woken Zeitgeistes" titulierte.

Beobachtet man ihn aus nächster Nähe, im Straßen-Wahlkampf, so erlebt man einen Sozialdemokraten wie aus altem Schrot und Korn. Ein Mann, der sich angeregt mit Arbeitern und Angestellten unterhält, mit Migranten und Minoritäten, der deren Sprache spricht und beherrscht, ebenso wie die gepflegte Konversation mit Akademikern über kulturpolitischen Themen.

Ausländerfeindliche Kampagnen und Drohungen

Özdemirs Wahlkampf wird von ausländerfeindlichen Kampagnen begleitet. Auf Facebook werden Fotos von ihm verbreitet, geklaut aus seinem Account, in dem er als ehemaliger Drogendealer und Schulabbrecher mit krimineller Vergangenheit geschmäht wird. Diese Hetze verbreitet sich rasend schnell und wird auf einschlägigen Websites gepostet, unter anderem auf der Page der AfD-Marzahn-Hellersdorf.

Inzwischen sprechen mich sogar hier Menschen auf der Straße darauf an, erkundigen sich, ob ich wirklich keine Drogen mehr konsumiere, oder wieso ich ohne Schulabschluss überhaupt kandidiere.

Orkan Özdemir

Özdemirs Biographie ist eigentlich eine bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte, symbolisiert den harten Aufstieg aus dem Milieu der sogenannten Gastarbeiter hin zum Akademiker. Der Politikwissenschaftler, ein smarter und umgänglicher Mensch, wird dabei mit den Klischees konfrontiert, die einem relativ jungen Mann mit einem türkisch-muslimischen Migrationshintergrund auch im Berlin des Jahres 2021 treffen können.

Es bleibt nicht nur bei Schmähungen im Netz, inzwischen wird Özdemir auch telefonisch bedroht und beschimpft." Ja, ich habe schon Angst", räumt er ein. "Weniger um mich als um meine Familie!", fügt er hinzu.

Als SPD-Direkt-Kandidat kämpft der Politiker nicht nur gegen den Genossen Trend, sondern auch gegen die Anfeindungen. Der Wahlkampfstand wird abgeräumt, es ist später Nachmittag. Ein SPD-Ballon fliegt ziellos umher, bleibt schließlich am Ast eines Baumes hängen.

An diesem Tag hat Franziska Giffey ihren Rücktritt als Bundes-Familienministerin verkündet, die SPD dümpelt bundesweit und in Berlin bei rund 15 Prozent.

Es ist der 19 Mai 2021.

Einige Wochen später. Vor einem Zeitungskiosk am Breslauer Platz trifft sich Orkan Özdemir mit Kevin Kühnert und einem Parteifreund.

Foto: Ramon Schack

Es steht eine sogenannte Gewerbe-Tour auf dem Programm, was bedeutet, dass sich die Kandidaten mit Kleinunternehmern und Geschäftsleuten aus ihrem Kiez treffen, teils mit konkretem Termin, oder sich im Vorbeigehen vorstellen. Der Inhaber des Zeitungskiosks klagt sein Leid, beschwert sich über die Willkür eines Mitarbeiters des Ordnungsamtes, worauf Özdemir angeregt Ratschläge verteilt, Hilfe verspricht, Nummern austauscht, während Kevin Kühnert schweigend nickt.

Am Abend zuvor war Kühnert zu Gast in der Sendung von Maybrit Ilner, diskutierte dort - ganz Medienprofi - angeregt und eloquent mit Gregor Gysi und Alexander Gauland über die aktuelle politische Gemengelage in Ostdeutschland. Hier aber, im Herzen seines Wahlkreises, den er als SPD-Direktkandidat der CDU zu entreißen versucht, hört er zu, überlässt seinem Parteifreund Özdemir das Feld.

Die kleine Gruppe geht die Hauptstraße entlang, bleibt hier und dort stehen, plaudert mit Eisdielen-Betreibern und Restaurant-Besitzern, wobei auch hier Özdemir viel bekannter als Kühnert erscheint, der nur von wenigen Passanten und Gesprächspartnern wahrgenommen wird.

Ein Wahlkreis im Kommen

Der Wahlkreis Özdemirs ist im Kommen. Der Prozess der Gentrifizierung ist weit vorangeschritten, die günstige Innerstädtische Lage, flankiert von attraktiven und frisch sanierten Gründerzeitbauten, großzügigen Grünanlagen, vorteilhafter Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, haben neben dem alt-westberliner Milieu, hat eine wohlhabende eher linksliberale Bevölkerungsschicht in den letzten Jahren den Kiez für sich entdeckt, was unter anderem an der Vielzahl von gutbesuchten internationalen Restaurants, Bars und Cafés zu erkennen ist, wie an den dort angesiedelten Geschäften.

Die Kaufkraft und das Pro-Kopf Einkommen liegen über dem Durchschnitt Berlins, soziale Brennpunkte sind vorhanden, aber eher als Ausnahme und Randerscheinung, nicht ganze Straßenzüge betreffend. "Mir geht es darum, ein Resonanzraum zu sein für Bürgerinnen und Bürger und mit ihnen zusammen Lösungen zu entwickeln. Ich glaube, nur so kann eine Stadt heutzutage funktionieren. So entsteht eine solidarische Stadtgesellschaft", erwähnt Özdemir, auf die Situation im Wahlkreis angesprochen.

Das wandelnde demographische Profil Friedenaus bringt auch politische Veränderungen mit sich, wobei sich erst zeigen wird, ob dies für die SPD vom Nutzen sein wird.

In Begleitung eines örtlichen SPD-Genossen, betreten Orkan Özdemir und Kevin Kühnert ein Schreibwaren-Geschäft, indem sie von der Inhaberin - einer dynamisch wirkenden Dame - schon erwartet werden.

Die Inhaberin führt ihre Gäste durch die Räumlichkeiten, berichtet sachkundig von der Qualität, Herkunft und der Anfertigung ihrer Produkte, erwähnt die heutigen Probleme, des sich seit Jahrzehnten im Familienbesitz befindlichen Geschäftes, von der Konkurrenz durch das Internet, den großen Einkaufsmalls, klagt über Steuern und Abgaben, schwärmt aber auch von Stammkunden sowie ihrer Leidenschaft für ihren Beruf.

Özdemir hört, zu reagiert, regt an und schlägt vor. Während die Geschäfts-Inhaberin in die hinteren Verkaufsräume bittet, dort wo sich die das hochpreisige Warenangebot befindet, spricht sie davon, wie schwer es heute sei geeigneten Nachwuchs zu finden, beziehungsweise Auszubildende, die die nötigen Qualifikationen und Fähigkeiten mitbringen. Özdemir nickt, während Kevin Kühnert seinen Blick über eine Auslage mit sündhaft teuren Kugelschreibern gleiten lässt.