20 verlorene Jahre

Putin heute vor 20 Jahren im Bundestag. Bild: Screenshot

Was wäre, wenn wir in Deutschland und Westeuropa ein gemeinsames europäisches Haus errichtet hätten. Und welche Rolle das Zerrbild der Medien spielt. (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil dieses Essays wurde das Muster betrachtet, mit dem Wladimir Putin seit 15 Jahren für alle möglichen Gewaltereignisse verantwortlich gemacht wurde: Sofortige Beschuldigung, Schüren öffentlicher Empörung, verhinderte Aufklärung, politische Maßnahmen gegen Russland, während spätere Widersprüche nur als Randnotiz berichtet werden.

Es liegt nahe, darin eine groß angelegte weltpolitische Intrige zu sehen. Eine wesentliche Rolle dabei spielen Medien. Dekontextualisierung1 und Fokussierung auf die Gegenwart mindern ohnehin schon die Qualität, aber natürlich sind viele Alpha-Journalisten mit transatlantischen Netzwerken verbunden und wissen, welches Narrativ von ihnen erwartet wird.2

Damit wird keineswegs behauptet, die involvierten Medien seien aktiv gelenkt. Meist verfallen sie nach einem kleinen nudging in eine Hysterie wie bei Russiagate, welches das Establishment in Amerika nach dem Betriebsunfall Trump hyperventilieren ließ. Hillary Clinton betrog den beliebten Bernie Sanders um die Kandidatur, verlor die Wahl, und Russland war schuld. Man fragt sich, was überwiegt: die inhaltliche Lächerlichkeit, die neurotische Berichterstattung in den corporate media oder die Heuchelei, über die eigenen jahrzehntelangen Einmischungen in fremde Länder, inklusive bewaffneter Staatsstreiche, auszublenden.

Russiagate? Es ist so eine Farce, dass man am besten gar nicht darüber redet.

Noam Chomsky

Russiagate ist aber nur die Spitze eines Eisbergs von medialer Hetze gegen Russland. Aus Russland kommen die einzigen Schwerverbrecher, bei denen sich die Presse nicht geniert, die Nationalität zu nennen. Bei zahlreichen IT-Zwischenfällen wurde die öffentliche Verdächtigung zelebriert, man vermute Hacker aus Russland, was inzwischen nur noch mit Satire zu verdauen ist.

Wahlen in Russland sind grundsätzlich manipuliert, obwohl es dort fast überall Videodokumentation gibt, in den USA dagegen über allen Zweifel erhaben, obwohl es seit der Skandalwahl von 2000 dort unverändert zugeht wie in einer Bananenrepublik. Überall gibt es solche doppelten Maßstäbe, wie überhaupt gefühlt 99 Prozent der Meldungen aus Russland einen negativen Beigeschmack haben.

Will man dem entkommen, muss man auch andere Medien konsumieren wie zum Beispiel russische Sender auf Youtube, Anti-Spiegel oder auch RT Deutsch, dessen durchaus integre Reporter in der Bundespressekonferenz mit einer ekelhaften Arroganz behandelt werden.

Dabei werden viele Meldungen die RT bringt, faktisch gar nicht bestritten, aber sie tauchen in den westlichen Medien eben nicht auf. Unser Problem ist weniger eine Lügen- als eine Lückenpresse.3 RT mag die russische Sicht der Dinge darstellen und auch gerne bei US-Missständen verweilen. Eine aggressive Hetze wie in den westlichen Medien findet man aber dort nicht.

Dennoch kann sich inzwischen kaum mehr ein Politiker erlauben, dort ein Interview zu geben, ohne dass sich ein transatlantischer Mob auf Twitter jeden rationalen Umgang mit Russland skandalisiert. Die maximal konziliante Einstellung gegenüber Putin ist: böse, aber bevor man Krieg führt, könnte man vielleicht noch ein paar scharfe letzte Warnungen aussprechen.

Für Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gilt dies aber wohl auch schon als appeasement: sie erachtet es als "gute Tradition" mit Russland "aus einer Position der Stärke" heraus zu sprechen. Seit Januar 1943 ist das leider nicht mehr so recht gelungen. Deutschlands Politikpersonal ist peinlich, aber das Einzige, was sich keine politische Partei erlauben kann, selbst die "Linke" nicht, ist mangelnde Nato-Treue.

Einfach mal zuhören

Wir haben zwei Militärbasen im Ausland, die der USA überall auf der Welt. Unser Verteidigungsbudget ist 50 Milliarden Dollar, das der USA zehnmal so groß. Und ich bin der Aggressor? Geht’s Ihnen noch gut?

Wladimir Putin

Wer sich den sinnentstellenden Kürzungen und Verdrehungen der westlichen Medien entzieht und sich direkt anhört, was Putin zu sagen hat, wird mit manch unangenehmer Wahrheit konfrontiert. Überhaupt endeten die Angriffe westlicher Journalisten auf den schlagfertigen Putin auf offener Bühne oft mit einem Fiasko.

Legendär ist zum Beispiel wie er in einer Fragestunde einen BBC-Journalisten abkanzelte oder auf dem Petersburger Forum die US-amerikanischen Nachrichtenstars Fareed Zakaria und Megan Kelly zerpflückte - dem US-Zuschauer wird dies natürlich nur in homöopathischen Exzerpten zugemutet.

In der alljährlich stattfindenden Sendung Der heiße Draht stellt sich Putin stundenlang jeder noch so kritischen Frage und beantwortet sie stets geduldig und sachlich. Es wäre im Übrigen gegen jede Lebenserfahrung, dass ein korrupter, Verbrecher, als der Putin so gerne dargestellt wird, plötzlich sich angelegentlich mit der Finanzierung von Krankenhäusern beschäftigt, respektvollere Prozeduren bei der Sozialhilfe anmahnt oder Fabriken und Schulen besucht, um die Probleme der Menschen aus erster Hand zu erfahren. Von all dem wird im Westen wenig berichtet.

Fakt ist aber, dass es seit Jahrzehnten keinen einzigen westlichen Politiker gibt, der sich auch nur annähernd so direkt, engagiert und transparent mit Bürgern und Journalisten auseinandersetzt. Allein sein nicht zu leugnendes Arbeitspensum nötigt Respekt ab. Er zeigt sich dabei ungewöhnlich informiert im Detail, überzeugt durch seine historischen Kenntnisse und bringt oft seine Zuhörerschaft zum Lachen, wenn ein Argument mit einem Zitat oder Sprichwort würzt.

Nebenbei: unabhängig von Nawalnys manipuliertem Video) ist einfach schon a priori unglaubwürdig, dass ein Mann von Putins Format besonderes Interesse an einem Protzpalast von hunderten von Zimmern hätte.