Fluchtroute Belarus: Autokraten-Doppelmoral in Berlin

Außenminister Heiko Maas (SPD) ist not amused über den migrationspolitischen Kurswechsel in Belarus. Archivbild: Olaf Kosinsky / CC BY-SA 3.0-DE

Lukaschenko wurde als Diktator, aber stillschweigend auch als Grenzwächter der EU betrachtet. Jetzt weigert er sich, diese Rolle auszufüllen und wird als Schleuser beschuldigt

Die Krise an der Grenze zu Belarus gewinnt durch die Ankunft vieler Geflüchteter von dieser Route in Mitteleuropa an Bedeutung. Vor Ort ist die Lage seit Monaten unverändert aufgeheizt. Vom Randthema zur zentralen News-Meldung wurde die im Juli hinzu gekommene Flüchtlingsroute aus dem Nahen Osten über Belarus in hiesigen Medien erst im September: Als angesichts steigender Zahlen klar wurde, dass die Barrieren der Baltikumstaaten und Polens die wachsende Zahl Flüchtender und Migranten auf diesem Weg nach Mitteleuropa nicht stoppen können.

Seitdem wird in Deutschland monatlich eine vierstellige Zahl Geflüchteter mit dem Durchreiseland Belarus aufgegriffen. Auf diesem Weg seien bis Mitte Oktober 2.600 Migranten nach Deutschland gekommen, berichtete unlängst die Deutsche Welle. Da am polnischen Grenzabschnitt Zahlen vorliegen, wonach es etwa jeder zehnte Flüchtling schafft, die Grenze unbemerkt zu überschreiten, kann man insgesamt wohl von mehr als 25.000 Versuchen von Migranten ausgehen, auf diesem Weg in die EU einzureisen. Wobei es natürlich Mehrfachversuche gibt, wenn es auf Anhieb nicht klappt.

Rund 10.000 Fluchtwillige in Belarus

Die polnischen Behörden gehen aktuell von 10.000 Fluchtwilligen in Belarus an der EU-Außengrenze aus. Wie schon seit Beginn der Krise stammen sie vor allem aus dem Nahen Osten. Russische Medien schreiben von einem wachsenden Anteil von Afghanen in Belarus, seit in ihrem Heimatland die islamistischen Taliban die Macht übernommen haben.

Steine werden dabei genug in den Weg der Migranten gelegt, doch in ihrer Not findet sich für viele irgendwann ein Weg, sie zu umgehen. Obwohl in mehreren EU-Grenzstaaten Zäune gebaut wurden, Druck auf Herkunftsländer ausgeübt und der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, wodurch auch die unmittelbare Berichterstattung aus dem Grenzgebiet erschwert wird. Auf weißrussischer Seite ist sie durch die aktuell repressive Pressepolitik der Regierung ohnehin kaum möglich, aber auch in russischen Medien sind nur wenig direkte Informationen zu bekommen.

Lukaschenko als Wächter der Menschenrechte

Der belorussische Präsident Alexander Lukaschenko mimt seit seinem Kurswechsel, Migranten ab sofort nicht mehr an der Weiterreise in Richtung EU zu hindern, den besorgten Flüchtlingsversteher und Wächter der Menschenrechte. Den Grenzschutz von Litauen und Polen klagte er gegenüber dem russischen Sender Sputnik an, Geflüchtete in Hunderten Fällen mit Elektroschockern traktiert oder geschlagen zu haben.

Auch von illegalen Rücktransporten Geflüchteter aus Polen ist in offiziellen weißrussischen Stellungnahmen die Rede. Sie würden aus dem polnischen Hinterland kommend gegen ihren Willen zurück nach Belarus geschickt. Weißrussische Behörden transportieren dagegen Feuerholz und Zelte in die Grenzregion zur EU seit dort Geflüchtete längere Zeit fest steckten, die weder vor noch zurück können. Lukaschenko sprach von einer humanitären Katastrophe und gefällt sich sichtlich in der ungewohnten Rolle des moralisierenden Anklägers.

Auch Vorwürfe von Autokraten können stimmen

Das Paradoxe an der gesamten Situation im Baltikum ist, dass die Anklagen des weißrussischen Diktators, der es gegenüber seinen eigenen Bürgern mit den Menschenrechten nicht unbedingt so genau nimmt, tatsächlich der Wahrheit entsprechen dürften, Die EU-Mitgliedsstaaten vor Ort setzen an ihrer Ostgrenze am noch offenen Tor aus Belarus eindeutig auf Abschreckung. Wie Beispiele aus anderen Grenzstaaten zeigen, schreckt man dabei allgemein vor Gewalt und nach EU-Recht illegalen Sofort-Abschiebungen - sogenannten Pushbacks - nicht zurück.

Die Abriegelung der Ostgrenze nach Weißrussland hat dabei auch schon sieben Todesopfer gefordert. Da die meisten von ihnen an Unterkühlung starben, ist in den nächsten Monaten noch mit einer Steigerung zu rechnen, wenn die Wetterverhältnisse winterlicher werden.

Vorwurf des staatlichen Schleusens

Lukaschenko selbst spielt im Flüchtlingsdrama nicht nur moralisch eine zwielichtige Rolle. Deutschlands Außenminister Heiko Maas (SPD) bezichtigte Belarus erst kürzlich, die Geflüchteten nicht nur ungehindert reisen zu lassen, sondern aktiv in die Europäische Union einzuschleusen. Zwischen Polen und Weißrussland ist die Situation wegen solcher Beschuldigungen äußerst angespannt. Erst vor wenigen Tagen gab es Vorwürfe aus Polen bezüglich eines vorgeblich von belorussischer Seite gestarteten Schusswechsels an der Grenze. Die Litauer wiederum sprechen von Grenzverletzungen durch den weißrussischen Grenzschutz, um Flüchtlinge in die EU zu befördern.

Wie weit die "Fluchthilfe" der Weißrussen geht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Gegenüber dem russischen Medienportal RBK gaben Belarus-Grenzschützer zu, Migranten nicht an der Ausreise über die grüne Grenze nach Litauen zu hindern, bestritten jedoch "aktive" Ausreisehilfe. Genau eine solche werfen die EU-Nachbarn - ebenso wie Maas und große deutsche Medien - den Weißrussen vor.

Auf einem auch in Russland zirkulierenden, neueren Video ist zumindest zu sehen, wie weißrussische Sicherheitskräfte eine Gruppe Flüchtlinge über die Grenze in die EU drängen. Nach Angaben aus Minsk handelt es sich dabei aber um von der EU zurück geschickte Migranten. Sicher ist, dass keiner der Beteiligten die Geflüchteten auf seinem Staatsgebiet dauerhaft dulden will. So kann eine gewisse Hilfe bei der Weiterreise generell nicht ausgeschlossen werden - weitere Videos, die darauf hindeuten, gab es bereits in der Frühzeit der Krise.

Die deutsche Doppelmoral

Interessant ist auch das Verhalten der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der aktuellen Situation. Während sie Lukaschenko wegen der Flüchtlinge eines Hybrid-Angriffs bezichtigt, besucht sie nahezu zeitgleich dessen Autokraten-Kollegen Recep Tayyip Erdogan in der Türkei und lobt die langjährige, gute gemeinsame Arbeitsatmosphäre.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich das Berliner Verhältnis zu Staatenlenkern mit erheblichen Demokratiedefiziten vor allem danach bestimmt, wie gut sie Geflüchtete davon abhalten, nach Deutschland weiterzureisen - und nicht etwa von der viel zitierten örtlichen Menschenrechtssituation. Vor allem da auch Lukaschenko vor der aktuellen Verschlechterung des Verhältnisses noch als Teil der "Östlichen Partnerschaft" der EU galt.

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