Zahlen, bitte! Kein Ende für Redeverbote – 50 Jahre Zensur-Index

Seit einem halben Jahrhundert werden im "Index on Censorship" Werke veröffentlicht, die irgendwo zensiert werden. Überall werden kritische Stimmen unterdrückt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 72 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Am heutigen Dienstag erscheint die Herbstausgabe des "Index on Censorship" in Großbritannien. Sie beschäftigt sich vor der 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow mit einem ganz besonderen Klima, dem Klima der Angst, das überall dort verbreitet wird, wo sich Klima- und Umweltaktivisten gegen den Raubbau wenden. Zum Erscheinen dieser Ausgabe wird der Rechtsanwalt Steven Donziger virtuell teilnehmen, bekannt für seinen Kampf gegen Chevron-Aktivitäten in Ecuador. Er erscheint virtuell, weil er in den USA seit 800 Tagen unter einem strengen Hausarrest steht.

Von der US-Presse ignoriert, ist Steven Donziger ein Beispiel für die Menschen, denen sein Vornamensvetter Stephen Spender eine Stimme geben wollte: am 15. Oktober 1971 erschien sein Aufruf "With Concern For Those Not Free" in der "Times". Er führte zur Gründung des "Index on Censorship".

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Wer an einen Index im Kontext der "abendländischen" Geschichte und nicht im Sinne der Datenbank-IT denkt, denkt zuerst an den Index Librorum Prohibitorum, mit dem die katholische Kirche zahlreiche Denker und ihre Bücher mit einem Verbot belegte. Schriften von Galileo Galilei oder von Johannes Kepler landeten auf diesem Index. In der Neuzeit erwischte es Immanuel Kant mit der "Kritik der reinen Vernunft", in der allerneuesten Zeit waren es die Schriften des Autorenpaares Jean-Paul-Sartre und Simone de Beauvoir. Im Jahre 1968 war es ein Brief des jungen Sowjetrussen Alexander Daniel an den britischen Schriftsteller Graham Greene, der auf die Lage seines Vaters Juli Daniel aufmerksam machte. Zusammen mit Andrei Sinjawski war dieser in einem Schauprozess zu "harter Lagerarbeit" verurteilt worden. Der Prozess zeigte, dass die sowjetrussische Führung nach dem "Tauwetter" wieder eine härtere Gangart einlegte, weil es in ihrem gesamten Machtbereich gärte.

In Großbritannien bildete sich eine Gruppe von Unterstützern und Unterstützerinnen, die sich in Anlehnung an Amnesty International "Writers and Scholars International" (WSI) nannte. Am 15. Oktober 1971 erschien in der "Times" ihr Gründungsmanifest With Concern For Those Not Free, geschrieben vom Dichter Stephen Spender. Spender verkündete die Publikation einer Zeitschrift namens "Index", die allen verfolgten Schriftstellern, Dichtern und Künstlerin in Ost wie West Gehör verschaffen sollte. Denn nicht nur in der Sowjetunion wurden kritische Stimmen unterdrückt, auch in Griechenland, Spanien und Portugal waren Diktatoren an der Macht, ganz zu schweigen von Lateinamerika.

15 britische und US-amerikanische Künstler schlossen sich dem Aufruf an, darunter der Dichter W.H. Auden, der Musiker Yehudi Menuhin, der Komponist Igor Strawinsky und der Bildhauer Henry Moore. Als die Zeitschrift 1972 das erste Mal unter dem leicht schiefen Titel "Index on Censorship. A Voice for the Persecuted" erschien, enthielt sie Stücke von Alexander Solschenizyn, einen Bericht über die Niederschlagung der Studentenproteste in Prag und einen Text von Giorgios Mangakis über die Folter in griechischen Gefängnissen.

In den 50 Jahren seiner Existenz veröffentlichte der vierteljährlich erscheinende Index zahlreiche wichtige Dokumente wie die Übersetzung der Charta 77, die Nobelpreisrede von Solschenizyn, die Geschichte der "Verschwundenen" in Argentinien, die Hungerstreik-Deklaration der Studenten vom Tianmen-Platz, die Deklaration der Unterstützer von Salman Rushdie oder die Berichte von Anna Politkowskaja über die Kriege in Tschetschenien. Die Sommerausgabe 2021 war den Whistleblowern dieser Welt gewidmet, schwerpunktmäßig am Fall von Reality Winner, die sich nach verbüßter Haftstrafe nicht öffentlich äußern darf.

Jetzt erscheint unter dem Vorzeichen der Klimakonferenz von Glasgow die Herbstausgabe Climate of Fear. The silencing of the planet’s indigenous peoples, die sich mit dem Protest indigener Völker beschäftigt, der in der ganzen Welt von Regierungen und Konzernen abgewürgt wird.

Zum Erscheinen gibt es eine kleine Online-Feier, der der Rechtsanwalt Steven Donziger zugeschaltet ist. Er steht seit 800 Tagen in New York unter Hausarrest und wird für seine Klagen gegen den Ölkonzern Chevron von US-amerikanischen Richtern verfolgt. Sie verlangen etwa die Herausgabe aller elektronischen Geräte des Anwaltes. Ähnlich wie im Fall von Julian Assange hat der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte festgestellt, dass das Verfahren gegen Donziger gegen das geltende US-Recht verstößt.

(mho)