Rache gegen Muslime und Revanche gegen Deutschland?

Zemmour am Mikro. Archivbild: Lagora; CC BY-SA 3.0

Der chauvinistische Éric Zemmour hat Chancen, nächster französischer Präsident zu werden. Gastbeitrag

In Deutschland hat sich gerade ein weit abgeschlagener Kandidat mit Namen Olaf Scholz an die Spitze der politischen Pyramide katapultiert. Geschieht jetzt dasselbe in Frankreich? Dort erobert aktuell der Neuling Éric Zemmour die politische Bühne im Sturmlauf. Seine Umfragewerte im französischen Präsidentschaftswahlkampf explodieren förmlich.

Er liegt bereits an zweiter Position hinter Präsident Macron, hat die rechtsradikale Marine Le Pen überholt und ist stärker als die prominenten Kandidaten der gemäßigten Rechten und der Linken zusammengenommen. Für die Option, Präsident zu werden, heißt das konkret: In der Stichwahl zwischen den beiden finalen Kontrahenten könnten Le Pen oder er ihr eigenes Lager auffordern, das des jeweils anderen zu wählen. Damit würden sie gemeinsam Macron aus dem Amt hebeln.

Der Haken daran: Dann bekäme Frankreich einen chauvinistischen Präsidenten oder eine ebensolche Präsidentin mit großen Vollmachten. Das würde wahrscheinlich auch das Schicksal Deutschlands und Europas zum Schlechteren wenden.

Darum stellt sich die dringende Frage: Wie erklärt sich das Phänomen Éric Zemmour, das stark an den kometenhaften Aufstieg eines Donald Trump nach seiner ersten chauvinistischen und rassistischen Bewerbungsrede im Jahr 2016 erinnert?

Zemmour profilierte sich in den vergangenen Jahren, ähnlich wie Trump, mit seiner eigenen TV-Show als Journalist und TV-Moderator (Macht Medienmacht mächtig?). Er wurde auf diese Weise einem größeren Publikum bekannt.

Das Pikante daran: Zemmour strickt als Abkömmling einer französisch-jüdischen Familie, die aus Algerien vertrieben wurde, sowohl innenpolitisch am Feindbild der muslimischen Minderheit wie außenpolitisch am Feindbild Deutschland. Besonders erschütternd ist, wie wenig Widerspruch und Protest er für seine radikalen Ideen und Agitationen im öffentlichen Raum erntet.

Gerade die deutsche Öffentlichkeit hat allen Grund, sich frühzeitig dazu eine kritische Meinung zu bilden. Immerhin stehen die französischen Wahlen im April 2022 ins Haus - während die Deutschen wieder einmal allzu sehr mit sich beschäftigt sind.

Ein neuer Krieg der Kulturen?

Wo kommt Zemmour her und was vertritt er? Ähnlich wie Trump, der durch Fox News großgemacht wurde, ist es Zemmour gelungen, den TV-Sender CNews für sich zu instrumentalisieren. Sein neues Buch mit dem Titel "Frankreich hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen" verleiht ihm und seinen radikalen Thesen weitere Publizität.

Gerichte haben ihn schon mehrfach wegen rassistischer Äußerungen verurteilt und trotzdem provoziert er in seinem Buch ungeniert weiter - und handelt sich ständig neue Vorwürfe des Rassismus, der Homophobie und der Diskriminierung von Frauen ein.1 Unter anderem kündigt er in seiner Publikation an, dass er, falls er französischer Präsident werden sollte, verhindern werde, dass Kinder in Frankreich weiterhin Mohammed genannt werden dürften.2

Er fantasiert außerdem seit Längerem von einem tausendjährigen Krieg der Kulturen zwischen dem Christentum und dem Islam und fordert zum Beispiel eine Revanche für den Text der algerischen Nationalhymne, in der Frankreich eine Abrechnung angedroht wird. Konsequent spricht er als Sohn einer aus Algerien vertriebenen Familie diesem Land das Recht ab, sich Nation zu nennen.

Das alles trägt dazu bei, dass sich Ressentiments, Rassismus und Hass zwischen Christen und Juden auf der einen Seite und Moslems auf der anderen in einem bereits stark vergifteten gesellschaftlichen Klima weiter aufschaukeln und immer wieder in Gewalt umschlagen.

So zündete einer von Le Pens und Zemmours Anhängern im Jahr 2019 die Eingangstür der Moschee von Bayonne an und schoss einem 74-jährigen Moslem in die Brust.5 Ein Jahr später griff ein islamistisch motivierter junger Täter den jüdischen Lehrer Samuel Paty an und enthauptete ihn auf offener Straße.

Zemmour argumentiert jedoch nicht aufklärerisch, sondern verstärkt die Polemik und Hate-Speech. Darum deuten muslimische Kommentatoren im In- und Ausland seine Äußerungen inzwischen als nichts anderes als einen gegen die Moslems gerichteten Faschismus.

Demagogie und das Feindbild der Deutschen

Aus deutscher Sicht ist es umso bedauerlicher, dass der demagogische Journalist auch gegen unser Land hetzt und damit ein altes Feindbild wiederbelebt. Bereits in seinen Kommentaren Mitte der Zehnerjahre vergleicht er die Lage aus französischer Sicht mit derjenigen nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Was will er damit sagen?

Dieser Krieg war der Ausgangspunkt für eine Welle von Chauvinismus auf beiden Seiten - die schließlich im Ersten Weltkrieg und den Schützengräben von Verdun explodierte. Der Hass führte auf französischer Seite zum unseligen Versailler Friedensvertrag eines Revisionisten Georges Clemenceau. Dieser spielte wiederum dem deutschen Revanchisten Adolf Hitler in die Hände und endete mit der Besetzung Frankreichs.

Zemmour wiederum provoziert, indem er den Kollaborateur General Pétain als Beschützer der Juden bezeichnet. Zu Zemmours Förderern gehört außerdem ein französischer Millionär, der der identitären Rechten nahesteht.

Gesellschaftliche Zersetzung durch Neoliberalismus

Es stellt sich also die brisante Frage, warum ein solcher Revisionist und Chauvinist im französischen Wahlkampf so viel Zuspruch erlangt. Warum können sich seine Botschaften des Ressentiments nach der Corona-Krise so ungehindert Bahn brechen?

Hier kommt offensichtlich eine Langzeitwirkung zum Tragen: Die neoliberalen Eliten wie Macron, Hollande, Schröder und Merkel haben ihre Gesellschaften seit Jahren und Jahrzehnten tief zerspalten und zersetzt. Sie haben Gemeinsinn und Solidarität mit Hilfe einer "marktorientierten Demokratie", wie die Wortwahl Merkels lautet, ausgehöhlt. Genau davor hatte der Soziologe Oliver Nachtwey gewarnt:3

Autoritäre Mentalitäten entstehen nicht im luftleeren Raum … (…) sie werden durch den Markt koproduziert.

Oliver Nachtwey

Die Krisen des Finanzcrashs, eine desaströse Politik des Westens in Syrien und Afghanistan, die massive Flüchtlingswellen auslöste und nicht zuletzt die neoliberale Zwangspolitik von Corona haben den Boden für neue Populisten bereitet. Die Gelbwesten und die Sammlungsbewegung "Aufstehen" erscheinen im Rückblick als das letzte Aufbäumen der ohnmächtigen Unter- und Mittelschichten gegen die Arroganz der herrschenden Eliten vor Corona. Beide Bewegungen wollten einen neuen Gemeinsinn und soziale Gerechtigkeit erkämpfen.

Macron hat jedenfalls die Gelbwesten-Bewegung geächtet und grausam niederkartätscht. Und Merkel und Macron haben durch überzogene Zwangsmaßnahmen und Ausnahmezustände jeden Protest von unten erstickt. Damit aber scheinen sie mehr Unheil angerichtet zu haben als auf den ersten Blick sichtbar wurde. Sie beschädigten die demokratische Kultur, sie promoteten aktiv Panikmache, Denunziantentum und schürten eine Kultur der Angst.

Sie erstickten Freiheits- und Bürgerrechtsbewegungen mit Gewalt im Keim und erklärten ihre Verteidiger entweder zu "Covidioten" oder gar zu Verfassungsfeinden. Erst jetzt wird sichtbar, dass sie damit die Gesellschaft lädiert und ihr wichtige Instinkte entzogen haben. Diese Zivilgesellschaft erweist sich als inzwischen als "immun-geschwächt". Politische "Auto-Immunkrankheiten" wie soziale Spaltung und Paranoia befallen und lähmen sie von innen.