Unterm Taliban-Regime: Wie Afghanen mit digitalen Inhalten weiter handeln wollen

Ein einst florierendes "Sneakernet", das Bilder, Serien und Filme an Menschen ohne Internetanschluss verkauft, hat unter der Herrschaft der Taliban zu kämpfen.

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(Bild: Sohaib Ghyasi / Unsplash)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Ruchi Kumar
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Als die Taliban Afghanistan im August einnahmen, musste Mohammad Yasin sehr schnell ein paar schwierige Entscheidungen treffen. Während das Land noch unter dem Schock der Machtübernahme durch die Aufständischen litt, schlich sich der 21-Jährige (dessen Name aus Sicherheitsgründen geändert wurde) in sein kleines Geschäft und machte sich an die Arbeit.

Er begann, einige der sensiblen Daten auf seinem Computer zu löschen und den Rest auf zwei seiner größten Festplatten zu übertragen, die er dann in eine Plastikschicht einwickelte und an einem unbekannten Ort vergrub.

Yasin ist ein so genannter "Computer-Kar", der in einem Land mit schlechter Internetverbindung digitale Inhalte von Hand verkauft. "Ich verkaufe so ziemlich alles – von Filmen über Musik und mobile Anwendungen bis hin zu iOS-Updates. Ich helfe auch bei der Erstellung von Apple-IDs und Social-Media-Konten sowie bei der Sicherung von Telefonen und der Wiederherstellung von Daten", sagt Yasin und fügt dann mit gedämpfter Stimme hinzu: "Ich kann auch [gestohlene] Telefone entsperren und unanständige Videos anbieten."

Als die Taliban am 12. August die Stadt Herat einnahmen, spekulierten Yasin und seine Kollegen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch ihre Stadt Mazar-i-Sharif eingenommen würde. „Die Lage war auch in Mazar angespannter, deshalb hielt ich mit anderen Computer-Kars ein geheimes Treffen darüber ab, was wir tun sollten, um unsere Inhalte zu schützen“, erzählt er. Der informelle Zusammenschluss von Computer-Kars hatte über mehrere Jahre hinweg mehrere hundert Terabyte an Daten gesammelt, von denen viele in den Augen der Taliban umstritten oder sogar kriminell waren.

"Wir waren uns alle einig, dass wir die schändlichen Inhalte nicht löschen, sondern eher verstecken wollten", sagt Yasin. "Wir argumentierten, dass Regime in Afghanistan häufig kommen und gehen, und unser Geschäft nicht gestört werden sollte." Der Computer-Kar ist nicht allzu besorgt darüber, entdeckt zu werden.

Kaum 20 Jahre nachdem der ehemalige Präsident Hamid Karzai den ersten Handyanruf in Afghanistan getätigt hat, gibt es fast 23 Millionen Handynutzer in einem Land mit weniger als 39 Millionen Einwohnern. Anders sieht es beim Internetzugang aus. Anfang dieses Jahres gab es weniger als neun Millionen Internetnutzer. Dieser Rückstand lässt sich größtenteils auf die weit verbreiteten Sicherheitsprobleme, die hohen Kosten und die mangelnde Entwicklung der Infrastruktur im bergigen Gelände des Landes zurückzuführen.

Kein Wunder, dass Computer-Kars wie Yasin heute in ganz Afghanistan zu finden sind. Obwohl sie ihre Informationen manchmal aus dem Internet herunterladen, wenn sie eine Verbindung bekommen können, transportieren sie einen Großteil der Daten auf Festplatten aus den Nachbarländern. Dieses Netzwerk ist auch als "Sneakernet" bekannt.

"Ich nutze das Wlan zu Hause, um Musikstücke und Anwendungen herunterzuladen; außerdem habe ich fünf SIM-Karten für das Internet", sagt ein anderer Kar namens Mohibullah, der auch nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden möchte. "Aber die Verbindung hier ist nicht zuverlässig, also schicke ich jeden Monat eine 4-Terabyte-Festplatte nach Jalalabad, die sie mit Inhalten füllen und innerhalb einer Woche mit den neuesten indischen Filmen oder türkischen Fernsehserien, Musik und Anwendungen zurückschicken." Dafür zahlt Mohibullah zwischen 800 und 1.000 Afghanis (7,75 bis 9,75 Euro, ein Afghani ist etwa einen Euro-Cent wert). Die meisten seiner Kunden sind Männer, aber auch Frauen kaufen regelmäßig Musik und Filme bei ihm. Vieles davon kommt aus Pakistan, wo es seiner Meinung nach bessere und billigere Internetverbindungen gibt.

Yasin und Mohibullah mussten ihr Geschäft schnell an das neue Regime anpassen. Sie ersetzten die schlüpfrigen Bollywood- und iranischen Musikvideos durch Taliban-Taranas (Lieder ohne Musikbegleitung) und Koranrezitationen. Die Afghanen lieben es, Bilder von Berühmtheiten auf ihren Handys mit sich zu führen; diese wurden nun durch Bilder von Taliban-Flaggen in verschiedenen Stilen ersetzt. All die "kostenlosen Filme", die Kars sonst anbieten, sind jetzt versteckt, und nur sie wissen, wo. "Wenn sie diese jemals finden, werde ich sehr hart bestraft. Sie werden mich hinrichten", sagt Yasin und erschaudert.

Beide Kars geben zu, dass die Übernahme durch die Taliban schlecht für das Geschäft war. Ihr Durchschnittsverdienst ist um fast 90 Prozent von rund 3.000 Afghanis pro Tag auf weniger als 350 gesunken. Das entspricht einem Einbruch von 28,25 Euro auf 3,35 Euro. "Davon gehen mindestens 100 Afghanis für den Treibstoff des Generators und etwa 50 Afghanis an die Gemeinde für den Platz, den ich auf der Straße nutze", sagt Yasin. "Das reicht nicht aus, um meine fünf Geschwister und meine Eltern zu unterstützen."

Die Taliban gehen nicht nur gegen ihre Inhalte vor, sondern auch gegen Kars wie Yasin, die ihre Dienste erweitert haben, um Afghanen zu helfen, die vor Verfolgung fliehen. "Diejenigen, die sich versteckt halten oder auf ihre Evakuierung warten, kommen zu mir, damit ich ihnen helfe, ihre Telefondaten auf Flash-Laufwerken zu sichern, damit sie nicht von den Taliban-Kämpfern erwischt werden, die die Telefone an den Kontrollpunkten überprüfen", sagt er. Manchmal verlange er eine geringe Gebühr, sagt er, aber in einigen Fällen habe er auch darauf verzichtet.

Mohibullah hält es für ironisch, dass die Taliban jetzt, wo sie an der Macht sind, gegen die Händler von digitalen Inhalten vorgehen, denn sie haben das Sneakernet selbst zur Radikalisierung und Rekrutierung genutzt.

"Hin und wieder traten einige Männer an uns heran, um Taliban-Taranas zu verteilen, in denen ihre Kämpfer gepriesen werden, oder um Videos von Hinrichtungen zu zeigen, die sie durchgeführt haben", sagt er. "Sie wollten unsere Dienste nutzen, um ihre Ideologie und Propaganda unter der Jugend zu verbreiten. Früher habe er so etwas nie mit seinen Kunden geteilt, sagt er.

"Heutzutage sind die Taliban jedoch unter uns, und sie verlangen solche Inhalte. Sie fragen auch nach Bildern von Taliban-Flaggen und Kämpfern mit ihren Waffen. Ich komme ihnen entgegen, denn ich muss meine Familie ernähren", sagt er.

Aber die afghanischen Computerkars sind nichtsdestotrotz geschäftstüchtig. Viele von ihnen verkaufen weiterhin diskret verbotene Inhalte. Andere hoffen sogar auf einen Aufschwung des Geschäfts mit bestimmten Unterhaltungsinhalten, da viele Afghanen, insbesondere Frauen, gezwungen sind, zu Hause zu bleiben.

"Während der COVID-Lockdowns stieg die Nachfrage nach Zeichentrickfilmen, weil die Kinder zu Hause festsaßen", sagt Mohibullah. "Jetzt, mit den Taliban und der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit, sitzen die Leute auch zu Hause fest – und könnten mehr Filme schauen."

(vsz)